Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901

23. August bis 3. Oktober

Bis auf den letzten Platz ist das Herrnfeld - Theater am Alexanderplatz schon geraume Zeit ausverkauft, ja, der Andrang zu der lustigen Bühne ist in dieser Saison stärker als jemals. Wenn Anton und Donat Herrnfelds „Original-Klabriaspartie" vor zehn Jahren den ersten großen Schlager des Herrnfeld-Genres für Berlin bedeutete und schon damals allabendlich ausverkauft war, so bildet die gegenwärtige Witzschöpfung „Die Klabriasbrüder auf dem Standesamt" ein einzigartiges Programm. Beigaben sind die Sensations-Leistungen von Tili Buscani, La Bella Ernestina, Martin Bendix und den phänomenalen 6 Oettlessys.

Im Berliner Lokal-Anzeiger erscheint am 1. September ein Leserbrief: „Öfter schon war ich Augenzeuge, wie Spaziergänger, u. a. Kinder im Friedrichshain von Rowdies belästigt wurden. Neulich Vormittag, als ich um etwa 9 Uhr den Friedrichshain durchschritt, traf ich dicht am Königsthor in der Hauptallee eine solche Rotte von etwa 15 dieses arbeitsscheuen Gesindels an, welche sich dort herumbalgten. Mit einem Male stürzten sechs aus ihrer Mitte direct über die Anlagen nach der Straße am Friedrichshain und fielen über einen Bäckerjungen her, welcher mit 2 Körben des Weges kam. In den Körben vermutheten sie jedenfalls Backwaaren. Das traf aber nicht zu, sondern nur ein Korb enthielt Eier. Selbstverständlich nahmen sie nun einige von diesen ohne Weiteres aus dem Korbe, tranken sie vor den Augen des verblüfft dreinschauenden Bäckerjungen aus und gingen dann ruhig, als wenn nichts passirt wäre, wieder zu ihren Kumpanen zurück. Und dies geschah alles in einem Zeitraum von etwa 2 Minuten. Der Bäckerjunge erzählte mir dann später, daß ihm vor einigen Tagen des Morgens um 5 Uhr von eben solcher Rotte die Semmeln aus dem Korbe genommen und vor seinen sichtlichen Augen verzehrt worden sind. Es fehlt wohl an Schutzleuten im Friedrichshain, um dieses arbeitsscheue Gesindel zu vertreiben. Die wenigen Wächter reichen hierzu nicht aus. O. K."

Auch die Schreibverhältnisse in den Postämtern werden von einem Briefautor bemängelt: „Wir sollen niemals undankbar sein gegen eine staatliche Behörde, wenn sie uns etwas Gutes thut, also auch nicht gegen die Reichspost, wenn sie uns Tinte und Feder und gar Löschpapier liebevoll darbietet. Aber: Wenn schon, denn schon. Übertreibe ich oder berichte ich der Wahrheit gemäß, wenn ich sage: Die Federn sind meist Alterthümer und einfach unbrauchbar, die Federhalter häufig tintenbefleckt, weil die Tintenfässer abgrundtief sind, die Tinte abscheulich und oft recht wasserhaltig, die Löschblätter ­ in alter, guter Zeit goß man durch dergleichen Kaffee; versuchte einmal einer der Herren Beamten, mit ihnen eine Postanweisungsquittung zu löschen!! Daß die Tinte eingetrocknet war (siehe die abgründigen Tintenfässer!), habe ich auch erlebt, erhielt aber auf demüthige Bitte Tinte eingegossen. Davon, daß sich drängelnd und Pardons brummend vier Menschen auf kleinstem Raum am Stehpult zusammenquetschen müssen, will ich nicht weiter sprechen, denn Raum und Miethe sind in Berlin theuer. Aber die andern Mißstände, sind sie nicht unter verhältnißmäßig geringen Kosten zu beseitigen und durch öftere sorfgältige Revisionen dauernd abzuwehren? P. H." Die Redaktion merkt an: „Abzuwehren ist aber auch die Art der Behandlung, die viele Herrschaften aus dem Publikum den Schreibutensilien zutheil werden lassen und der oft unnütz ausgedehnte Aufenthalt in den Postämtern."

Dr. med. H. findet Mitteilungen über neue nächtliche Fernsprechverbindungen mit Köln, Stuttgart, Budapest, Paris, Kopenhagen, sowie Hamburg und Frankfurt a. Main interessant. „Wunderbar indeß erscheint es nicht nur mir, sondern vielen mit Berlin in engster Beziehung stehenden Einwohnern der Vororte, als Groß-Berlinern, weshalb nicht endlich auch die Nachtfernsprechverbindung mit den Vororten Berlins, vor allem mit einer Großstadt wie Charlottenburg, eingeführt wird, wozu meines Erachtens ein dringenderes Bedürfniß in vielen Berufskreisen vorliegt, als für eine Nachtfernsprechverbindung Berlin-Stuttgart. Ich selbst, der ich als langjähriger Arzt in Berlin mich bei meiner Übersiedelung nach Charlottenburg, Bleibtreustraße 48 (bei Bahnhof Savignyplatz) für verpflichtet hielt, auch nachts für meine Berliner Praxis erreichbar zu sein, habe in Folge meines Ersuchens bei der Kgl. Ober-Postdirection allerdings einen allabendlich hergestellten nächtlichen Anschluß über das Berliner Fernsprech-Amt IX erreicht, doch gegen einen jährlichen Zuschuß von Mark 70,00. Weniger diese Summe, welche ich im ärztlichen Interesse gern bezahle, sondern der Mangel einer meines Erachtens so geringen Berücksichtigung eines nicht unwesentlichen Theils der Residenz- und Großstadt Berlin, ist es, welche mich veranlaßt, öffentlich für Abhilfe zu plaidieren."

Auch die Spezialitätenbühnen der Neuen Welt in der Hasenhaide hat ihr September-Programm mit vorzüglichen Darbietungen bereichert, erwähnt seien die brillante Trapezkünstlerin Mlle. Marguerita, der bekannte Hand- und Kopf-Equilibrist Little Walton und das berühmte Luftpotpourri Selma Leopard-Troupe.

Falko Hennig

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