Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ich habe fertig!

Eine Anthologie behauptet, das Beste von Berlins Lesebühnen versammelt zu haben

„Reformbühne Heim und Welt", „Chaussee der Enthusiasten" oder „Surfpoeten" ­ das Phänomen der Berliner Vorlesebühnen gibt es mittlerweile seit über zehn Jahren: Nach der Eröffnung von „Doktor Seltsams Frühschoppen" gediehen sie prächtig, vermehrten sich geradezu karnickelartig und überzogen Berlins Mitte mit einem Netz von Veranstaltungen dieser Art. Das Konzept: Einige mehr oder weniger junge, in den Anfängen noch unbekannte Autoren treffen sich allwöchentlich in schummrigen Lokalen und lesen sich und dem Publikum ihre mehr oder weniger lustigen Texte vor, wobei nicht nur das Geschriebene, sondern auch seine Präsentation gefeiert wird (brüllen, singen, lallen). So etwas gibt natürlich immer wieder mal was her für einen hübschen Zeitungsartikel über „eine ganz neue", „erfrischend ungekünstelte" Literatur, die „ihren Ursprung im wirklichen Erzählen" hat, Henryk Broder sprach gar von „jungen Wilden". Die Verlage wurden aufmerksam, die Autoren gepusht: Nach dem Erscheinen von Wladimir Kaminers Russendisko vor einem Jahr erhielten mehrere dieser Bühnenaktionisten einen Buchvertrag.

Vor kurzem kam die Anthologie Frische Goldjungs auf den Markt. Von Kaminer herausgegeben, stellt sie zehn Lesebühnen-Autoren (Kaminer eingeschlossen) vor. Und es läßt sich sagen: Das Buch ist alles andere als ein gutes Buch. Es funktioniert einfach nicht. Was auf der Bühne noch den Charme des Unfertigen und Unprofessionellen verbreiten kann und als bewußt eingesetztes Stilmittel, gepaart mit ungeplanten Improvisationen und mehr oder weniger schiefen Gesangseinlagen, seine Wirkung tut, kann in einem Buch nicht bestehen: Die Autoren hatten zwar – im Gegensatz zur Praxis der Lesebühnen – die Möglichkeit, eine Textauswahl zu treffen und auf diese Weise die vermeintlich gelungensten ihrer Elaborate herauszufiltern, doch die meisten Kurzgeschichten in der Anthologie wirken so: In einer Nacht vor Lesebühnenauftritt schnell zusammengekritzelt, für das Buch nochmal flüchtig durchgesehen, zwei Kommas raus, ein Ausrufezeichen rein – „Ich habe fertig!" Entsprechend kommen die Texte dann auch daher „wie Flasche leer". Ihnen fehlt das Medium der Bühne, das verrauchte Lokal, das grölende Publikum, die Frozzeleien untereinander. Denn die Lesebühnen sind in ihren besten Momenten ein lautgeführtes, unterhaltsames Kneipengespräch, zusammengesetzt aus Erinnerungsfetzen, guten und schlechten Witzen.

Man kann bei den Bühnenabenden richtig miserable Vorstellungen erleben, etwa dann, wenn den Autoren im Laufe der Woche einfach nichts eingefallen ist. Oder aber ­ und das ist meistens viel entscheidender ­ wenn nicht genügend Zuhörer da sind. Je mehr im Publikum gelacht wird, desto stärker wird der Sog auch für den unvoreingenommenen Zuhörer, es den anderen gleichzutun.

Statt, wie manche Autoren wohl glauben, zu provozieren, geriert sich die Lesebühnenschaft sowieso hauptsächlich in allerliebster Putzigkeit nach dem Motto: „Leute, habt uns alle, alle gern!", im steten Repetieren einer scheinbaren, jedoch nur eingeübten Naivität und nicht selten in schlichter Belanglosigkeit. Für einen Kneipenabend mit gewogenem, respektive lachwilligem Publikum mag das reichen, lesen sollte man's dann besser doch nicht, es sei denn, man trinkt sich ­ wie die Zuhörer bei den Lesebühnen ­ die Texte mit fünf, sechs Bier „zurecht".

Der einzige der Bühnenakteure, der noch einigermaßen provokatives Potential entfaltet, ist Michael Stein. „Böskasper" Stein kultiviert die Kunst der reinen Improvisation und düpiert mit seinem politisch unkorrekten Salbader nicht wenige: Im Schokoladen erhielt er Auftrittsverbot und war so auch einer der Auslöser des Umzugs der „Reformbühne" ins Kaffee Burger. In die Goldjungs-Anthologie aufgenommen wurde er nicht: Stein schreibt seit mehreren Jahren nicht mehr. Vielleicht ist das die konsequenteste Einlösung des Lesebühnen-Konzepts.

Roland Abbiate

Wladimir Kaminer (Hg.): Frische Goldjungs. Goldmann Verlag, München 2001. 15 DM

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