Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Baschkirenregimenter an der Spree

Moskau-Berlin: Ein ergiebiges Thema, ein fader Sammelband

Moskau-Berlin: zwei Metropolen, zwei Kapitalen, historisch vielfältig miteinander verbunden, in jüngster Zeit beide starken Veränderungen und politi-schen Neudefinitionen unterworfen. Das Buch, das sich mit diesem Thema beschäftigen sollte, resultiert aus einem Projekt des Literarischen Colloquium Berlin (LCB), das je eine Handvoll russischer und deutscher Autorinnen und Autoren nach Moskau und Berlin führte. Literarisch sollten dabei Stereogramme entstehen, jeder Teilnehmer hatte einen Text über Moskau und einen über Berlin zu erstellen: „Momentaufnahmen von ungewöhnlicher Tiefenschärfe und hoher Dichte", wie der Herausgeber Tilman Spengler in seinem Vorwort erklärt.

Die sind wenigen Beiträgen gelungen. Die Ankündigung des Klappentextes, die Schriftsteller/innen „spürten Veränderungen nach", gäben sich „kenntnisreich und doch mit eigenwilligem, unverstelltem Blick den Stadterfahrungen hin", gilt leider nur für einen Bruchteil dieses insgesamt langweiligen Bandes. Auffällig ist vielmehr die Indirektheit vieler Texte, die Scheu oder Unfähigkeit, eigene Erfahrungen zu sammeln, Beobachtungen zu machen und sie zu schildern.

Das drückt sich aus im Rückzug auf literarische Vorgänger, auf Nabokov in Berlin, auf das von Viktor Schklovskij dort verfaßte Zoo oder Briefe nicht über die Liebe oder Walter Benjamins Moskauer Tagebuch. Über diese Schrift ist Michail Ryklin immerhin ein Essay von hohem intellektuellen Niveau mit Bezügen ins Heute hinein gelungen.

Davon ist bei den peinlichen Texten der deutschen Delegation nichts da, deren Vertreter sich vor der Auseinandersetzung mit der städtischen Wirklichkeit des heutigen Moskau drücken, indem sie darüber schreiben, wie sie sich mit dem Taxi auf den Flohmarkt kutschieren lassen (Hanns Zischler), in der Hotel-Bar des Kempinski hocken (Elke Schmitter) – vielleicht verlangte ja das Moskauer Kempinski als ein Förderer des Projekts eine Referenz in einem literarischen Beitrag – oder den Zoo besuchen (Katja Lange-Müller). Dieser Beitrag Lange-Müllers könnte in jedem beliebigen Tierpark spielen, der einzige Tupfer lokalen Kolorits ist ihr mit Vodka gefüllter Flachmann. Bert Papenfuß gibt sich seinen notorischen, versponnenen Schwurbeleien mit gelegentlichen Reim- & Kalauerkaskaden hin, in seinem Berlin- noch exzessiver als im Moskau-Text, schafft es dabei aber immerhin, an den in Moskau verbrannten deutschen barocken Poeten und Propheten Quirinus Kuhlmann zu erinnern – was dieser verdient hat.

Die Beiträge der Russen Michail Ryklin und Jewgeni Popow (dessen gespreizte Erzählkonstruktionen stören) und der Russin Tatjana Schtscherbina bringen interessante Beobachtungen, Erlebnisberichte, Reflexionen und Vergleiche zur deutschen und russischen Hauptstadt. Die russischen Autoren hatten bessere Voraussetzungen für ihre Berlin-Texte, da mehrere schon längere Zeit hier gelebt hatten ­ doch wären für das LCB-Projekt umgekehrt auch in Deutschland Kandidaten mit Rußland-Erfahrung oder zumindest -bezug zu finden gewesen.

Doch offenbar fehlt's nicht nur daran, denn auch über Berlin hatten die Deutschen nichts Nennenswertes zu schreiben, abgesehen von den entlarvenden Beobachtungen des irgendwie unter sie geratenen Haralampi G. Oroschakoff über das neue Berlin und die nach ihm benannte Republik. Zwei verschrobene Texte hat dieser in Sofia geborene Künstler und Kunsttheoretiker mit verschiedenen slavischen Wurzeln abgeliefert, mit vielen Fußnoten zur Geschichte, zu eigenen Werken und seinen adeligen Vorfahren im diplomatischen Dienst und Sätzen wie dem Bekenntnis, er habe „innerlich gejubelt bei der theatralischen Vorstellung, daß Kosaken- und Baschkirenregimenter ihre geschmückten Pferde in der slawischen Spree tränkten, während sie, nach Knoblauch duftend, erhitzt von Schwertkämpfen, sich dem fröhlichen Tagwerk der Vergewaltigung hingaben."

Wenn auch nicht alle Beiträge der russischen Fraktion gelungen, einige eher schnell hingeschrieben wirken, sind für das Gefühl, Zeit vergeudet zu haben, das sich nach Lektüre der Sammlung einstellt, vor allem die deutschen Literaten verantwortlich. Aus dem Thema wäre einiges herauszuholen, gerade unter den eingangs zitierten Zielsetzungen – man müßte nur die geeigneten Leute auswählen.

Thomas Keith

Tilman Spengler (Hg.): Moskau-Berlin. Stereogramme. Berlin Verlag, Berlin 2001. 36 DM

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