Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Literaturhaus läuft Amok in der Stadt

Literaturhausliteraturterrorplakate im zweiten Jahr ­ ein Augenzeugenbericht

Es gibt Sachen, die kennen alle. Von Kindesbeinen an. Im selbstbestimmten Zeitvertreib oder auf der Klassenfahrt: Wir gehen in ihnen einher. Wir bewegen uns in ihnen, unserem Blick sind sie keine Unbekannten. Sogar sind wir Teil jener Landschaft, die wir sehen, wenn wir eine Landschaft sehen.

Landschaften müssen nicht schön sein. Es genügt, wenn man von ihnen einen Eindruck gewinnen kann, der so ein Wiedererkennen irgendwo schon erlaubt. Schön wird eine Landschaft also erst in der Ansicht. Von Oben, aus der Höhe, von Vorne und von der Seite kann man eine Landschaft wahrscheinlich auch sehen. Das ist dann eher eine Vorstellung.

Im Blickfeld die Stadtlandschaft, das Panorama.

Berlin ist eine ziemlich besondere Stadt ­ das ändert die SPD zwar gerade ­ aber in einem ist Berlin wahrscheinlich doch so ziemlich kommun: Seine Öffentlichkeit, die Vorstellung von Öffentlichkeit in Berlin beginnt wie anderswo auf der Straße. Mit der Fassade und dem Bürgersteig.

Anders die Werbung: Sie ist direkt. Sie ist überall. Auch bei Dir.

Doch wer hat schon Plakatwände zuhaus? ­ Noch nicht? Wird langsam Zeit, -alter.

Im Plakat sozusagen der Sitz der Öffentlichkeit. Der Ankündigung. Der Vermittlung, der Vorstufe zum Markt.

In der Plakatlandschaft erblickt die Ware das Licht der Öffentlichkeit. Tausendfach glänzend und betriebsbereit. Das neue Auto. Die neue Kleidung. Die neue Waschmaschine. Das neue Angebot. Dein Wunsch. Und die Farben erst. Segensreiche Sprüche sind dazumontiert. Das knallt. Sonst nichts. Hallo, ich bin der Uwe. P O ESIE

Poesie? Ja, die gab es auch. Im letzten Jahr, und auch in diesem. Die Stadt war voll davon. Nur eben, passend zu Ozon- und Sommerloch, unsichtbar, wie die Kampagne selbst, die niemand sah. „Literaturhaus bringt Literatur in die Stadt." ­ Und damit die GARANTIE, daß P O ESIE, ­ ein in weißen Großbuchstaben hingekritzelter Hinweis ­ daß P O ESIE im Hintergrund blieb. Im Hintergrund einer grünen Fläche ­ auf der in schwarzen Lettern nun: Texte standen, die tatsächlich den Hinweis P O ESIE auch brauchten.

Denn natürlich war die Poesie keine Poesie, sondern Prosa. Eine nur selten rhythmisch geordnete Prosa zumal. In dünnen, kleingedruckten Zeilen. Text, der so tat, als sei er Textur. Darunter, wie in der Schulfibel oder auf einer Kinderzeichnung in (Klammern) ein Name. Nur das Alter der Autoren fehlte. Aber Poesie altert ja auch nicht. Poesie ist zeitlos. Wie ebend im Poesiealbum.

Und so die Gestaltung der Plakate, wenn sie denn gestaltet wären. Aber das waren sie nicht. Sie sahen aus, wie wenn die Graphikerin im Urlaub war, und dann hat einer ein Buch geholt, mit moderner Literaturpreisträgerliteratur, und das dann irgendwie, na: so größer gemacht. Reicht das? Nö. Ach so. Hier kann man noch die Schrift verändern. Aha. Und jetzt noch der Hinweis auf uns ­ was nehmen wir denn da? Oh, das ist schwer, ... obwohl ­ und so wird dann irgendwann die Plakataktion der Literaturhäuser entstanden sein, tausendfach gedruckt: je neun Quadratmeter im Straßenbild einer sommerlichen Stadt.

Doch keine Sonne lag in diesen Plakaten. Weder bei der Auswahl der Texte noch bei ihrer Gestaltung. Kein Gedanke daran, daß Lesen ein eminent telepathischer Vorgang ist (Wbenjamin), kein Gedanke daran, daß ein Gedicht zu lesen auf der Straße, auf einem Plakat eine ungleich andere Erfahrung proliferiert, als die einer Lektüre im privaten Raum.

Nun ist ein solches Wissen – es ist in den Literaturhäusern Berlins und in Frankfurt, Hamburg, Bremen oder München nicht bekannt. Man wird vom Bin Laden der modernen Literatur ausgehalten (Bertelsmann AG) und ist – in Stille und Erbauung – damit befaßt, atavistische Dichterlesungen zu inszenieren; doch auch die Plakat-„Aktion" war wie bei den Taliban bestellt. In mit modernen Geräten bewaffnetes graphisches Mittelalter, von Die Zeit, der Süddeutschen Zeitung, der Raiffeisenbank und dem Immobilienunternehmen DIFA finanziert. – Das ist Funktionaler Analphabetismus: „Literaturhaus bringt Literatur in die Stadt" – es stand in einem braunen Balken das Menetekel und klang wie „Gotteshaus bringt Gott in die Stadt". Dazu im Hintergrund einer fahlgrünen Fläche, in Weiß: GO TT. – Du weißt schon: das neue Modell von Audi.

i g wilms

Foto: Mathias Königschulte

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