Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wo sind denn die Gleichaltrigen?

Es fing an in einem Eisenbahnabteil, Sonntagabend, der Zug voller Bundeswehrsoldaten. Freundliche junge Männer waren das. Da waren kein Bierdosen-an-den-Kopf-knallen, kein Grölen, keine Glatzen oder tätowierte Hakenkreuze. Drei Wehrdienstleistende, ein Rentner und ich im Abteil. Die Soldaten lasen: Fantasy-Schwarten oder deutsche Literatur. Catch21 wurde erwähnt, ein Kultbuch in ihren Kreisen. Sie waren so jung. So attraktiv mit ihrer sportlichen Kraft, ihren Waschbrettbäuchen und sonnengebräunten Schulterblättern. Ein Anblick, von dem manch homosexueller Mitbürger träumen könnte. Ich versuchte, den Bauch einzuziehen und meiner Muskulatur einen insgesamt etwas strafferen Ausdruck zu verleihen. Das gelang, zwei Minuten lang. Da waren wir ein jugendliches Abteil, sogar der Rentner neben mir war gut in Schuß: goldene Brille, graues Haar, Diogenes-Kriminalroman.

Plötzlich erwachte, durch ein besonderes Ruckeln des Zuges, die Mathematik, die in einem besonderen Kästchen in meinem Hirn wohnt. Sie zählte nach und die Anzahl der Jahre zwischen mir und den Jungen einerseits und mir und dem Rentner andererseits war gleich. Das machte mich ­ sagen wir mal ­ nachdenklich. So eine bald 40jährige Nachdenklichkeit lastete auf mir. Da war die gute Laune hin. Ich ging aufs Klo und wollte aus dem Zugfenster „Was ist aus uns geworden!" in die Norddeutsche Tiefebene brüllen. Tat es aber nicht, denn es gab nur ein schmales Klappfenster. War innerlich aber sehr aufgewühlt. Und: Wer „uns" ist, wußte ich nicht.

„Uns"?: Das waren doch „wir". Und „wir", das waren doch die Leute meiner Generation, meines Jahrgangs, die Gleichaltrigen. Wir waren zusammen gestartet, und auf der Zielgeraden würde man sehen, wer es am weitesten gebracht hatte.

Dann hielt der Zug, ich stieg aus, blieb eine Woche in Westdeutschland, fuhr wieder zurück und stieg wieder aus. Überall aber waren alle entweder jünger oder älter.

Also fuhr ich am Wochenende zur Oranienburger Straße und setzte mich in eins der Straßencafés und suchte Gleichaltrige unter den Passanten. Die müßten wahrscheinlich etwas älter aussehen als ich, dachte ich mir, denn ich bin ja mehr der jugendliche Typ... Also, wer könnte es sein?

Vielleicht der: Wenig Haare, Jeans, das Jackett hängt lässig über der linken Schulter, ein Hi-Tech-Spielzeug in der Hand? Oder seine Frau? Die zierliche Brünette mit der jugendlichen Fönfrisur und den vernünftigen Schuhen? Oder der? Graue Designermode kaschiert einen kleinen Wohlstandsbauch. Spitzbart, kreative Brille. Der mit den Mokassins und den hautfarbenen Socken. Unter seiner Glatze grinst es kindlich. Sie vielleicht. Goldkettchen unter rosa Strickjacke. Und dies verächtliche Zucken des Mundwinkels muß man jahrelang trainieren. Oder der: Die langen Haare, zum Pferdeschwanz gebunden, langsam grau werdend. Die Frau mit dem Kinderwagen und der riesengroßen Nase? Oder die Blonde mit dem faltigen Hals und der Teenager-Tochter? (Ist es ­ nebenbei bemerkt ­ nicht furchtbar, wenn man die Gleichaltrigen sexuell nicht mehr attraktiv findet?) Der Radfahrer eventuell ­ mit dem Holzfäller-Hemd, das Gesicht zerfurcht vom Marathonlauf, oder der Cowboy mit den spitzen Schuhen und dem erloschenen Blick. Oder der da drüben mit dem Stadtplan: Gesundheitslatschen, rote Hose, blaues T-Shirt. In seiner Freizeitkleidung sieht er wie verkleidet aus.
Oder die Frau, die sich zum Affen macht mit ihrem Girlie-Outfit.

Ich hab sie alle nicht gefragt. Weiß also immer noch nicht, wie die Gleichaltrigen aussehen. Und darum könntet Ihr mir jetzt einen großen Gefallen tun, und zwar besonders die, die – wie ich – Jahrgang '63 sind: Ich hätte gern ein aktuelles Foto.

Wenn ich genug zusammenbekomme, mach ich eine Ausstellung in einer kommunalen Galerie, da könnt ihr euch dann ansehen, wie ihr ausseht, ansonsten schick ich sie zurück, wenn ihr Rückporto beilegt. Besten Dank

Hans Duschke

Bov Bjerg interessiert sich nicht für den Jahrgang '63, über die 66er würd' er aber gern mehr erfahren. (die beiden alten Säcke)

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