Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen

Cross The Border

Musik ergeht es im Regelfall wie den Teilnehmern an Weltwirtschaftsgipfeln: Die Großen und Dicken kommen problemlos über die Grenze, während alles, was ein wenig unbekannter ist und unter Umständen eine Gegenposition einnehmen könnte, an der Grenze herausgefiltert wird. Aus diesem Grund ein kleiner Gegengipfel.

Mehr oder minder pfiffige Gesundheitsstrategen entwarfen Anfang der Siebziger ein kleines, pummeliges Männchen. Dieses mußte dann als Maskottchen für die neue Trimm-dich-Bewegung herhalten und bekam gleich auch noch eine hochdynamische Erkennungsmelodie spendiert, damit die Synthetik-Adidas-Fitneß-Fanatiker, die Samstach Nachmittach die heimischen Trimm-dich-Pfade abhechelten, auch immer ein fröhlich Lied im Ohr hatten. Das Männchen ist inzwischen verschwunden ­ zumindest aus Deutschland. Es ist nach Finnland ausgewandert, hat sich dort die Schriften Timothy Learys entdeckt, an intensiven LSD-Experimenten teilgenommen und sich der Band Aavikko angeschlossen. Gemeinsam haben sie Multi Muysic (Spinefarm) herausgebracht und einen Orgel-Siebziger-Trip-Sound entwickelt, der seinesgleichen sucht: Surf ohne Gitarre, Fitneß ohne Bewegung, Trip ohne Droge. Größte Hoffnung: daß auch die ehemaligen Trimm-Traber entsprechende Mutationen durchlaufen.

Ähnlich skurril, wenn auch wesentlich beschaulicher geht es bei Tujiko Noriko zu. Es könnte der aktuelle Soundtrack zu Alice im Wunderland sein: Poppig und verwirrt zugleich singt Tujiko Noriko ihre Songs ­ größtenteils auf Japanisch ­ und läßt sich dabei von einer elektronischen Zuckerwatte einhüllen. Daß die nicht klebt, liegt an ihrer alles kristallisierenden Stimme. Dabei ist Sojo Toshi (Mego) alles andere als unbedarft. Eher ist es so, daß dieser zuckersüße Auftritt mit einer durchaus zersetzenden Kraft aufgeladen ist. Ähnlich wie in Filmen von Takashi Miike ist auch bei Tujiko Noriko auf den ersten Blick, beim ersten Hören alles friedlich und wohlwollend angeordnet. Beim wiederholten Hören dämmert es langsam, daß diese Zuckerwatte mit Stahlwolle durchsetzt ist und mehr als harmloses Vergnügen bietet. Wundervolle Mehrschichtigkeit.

Auch nicht gerade arm an Verweisen und Widersprüchlichkeiten ist ein HipHop-Sampler aus Frankreich. Das Spektrum reicht von weichen R&B bis hin zu satten und direkten HipHop-Beats. Das Besondere an dieser Compilation ist, daß nur weibliche Acts vertreten sind. Während in Deutschland noch mit machohafter Orginalität wie mit „Du rappst wie ´ne Frau" gedisst wird, ist das Standing von Frauen in der HipHop-Szene Frankreichs offensichtlich besser. Zusammengestellt von Staazi-A, die schon seit Jahren eine Vorreiterrolle in Frankreich einnimmt, stellt L (Elles) (XIII Bis Records) die Skills der weiblichen Acts eindrucksvoll unter Beweis. Ob nun mit gesampelten Versatzstücken und englischen Texten oder in französisch und kompletten Neuinszenierungen – dieser Sampler dürfte nicht nur französische HipHopper beeindrucken. So kann diese Rubrik nur mit der Forderung schließen: Freies Fluten – offene Grenzen Für Alle.

Marcus Peter

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  Ausgabe 07 - 2001