Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wenn Käfer die Maschinen stürmen

Depressive Seitenpfade jenseits des Raum-Zeit-Kontinuums

Auch wenn es schwerfallen dürfte, den genauen Zeitpunkt des Urknalls auszumachen, das Pop-Universum expandiert und entwickelt ständig neue Modelle musikalischer und visueller Ausdrucksformen. Die Erkenntnis, daß Lärm Musik enthält, ist wahrscheinlich so alt wie die Geschichte des Instrumentenbaus, und mit elektronischen Verstärkern eröffneten sich weitere neue Möglichkeiten, man denke nur an Ufo von GURU GURU oder die Arbeiten von Boyd Rice oder MERZBOW. Die Musiker von PROJECT DARK, die vor kurzem in Berlin spielten, basteln Schallplatten aus Knäckebrot und Sandpapier und malträtieren damit Tonabnehmer. „Wie klingt die Welt?" scheint ihr Motto zu sein. „Wie klingt menschliches Haar und wie klingt ein Feuer auf dem Plattenteller?" Daß sie ihre Experimente auch visuell untermalen und zeigen, was der Nadel gerade widerfährt, ist auf den ersten Blick amüsant, bereichert die Sache aber letztlich wenig und steht ihr vielleicht sogar im Weg. Im Gedächtnis bleiben nicht die Klänge, sondern Bilder von explodierenden Plattenspielern und Grammophontrichtern auf der Bühne.

Ganz anders dagegen die Leisetreter von ISAN. Schon die Titel ihrer Alben machen deutlich, daß sie sich in eine ganz andere Richtung bewegen. In Beautronics (1998), Salamander (1999) und Lucky Cat (2001) werden dem Hörer immer stillere und zärtlichere Ambient-Miniaturen angeboten. Die Welt implodiert, und man findet sich wie Alice in Wonderland in einer Parallelwelt wieder, in der herkömmliche räumliche Kategorien nichts mehr gelten. Mal verengt sich der akustische Rahmen zum Porzellangeklapper in der Puppenstube, mal eröffnen sich weite Ausblicke auf friedvolle pastorale Landschaften oder eine stille graue See, unter der man gefährlich starke Strömungen nur erahnen kann. Robin Saville, die eine Hälfte von ISAN, sagte mir im Interview, daß er nicht den Ehrgeiz habe, ständig neues Territorium zu betreten, um dort eine Flagge zu hissen und zu verkünden, wer als erster dort war. ISAN gehe es eher um die Seitenpfade, wo CLUSTER und ENO in den Siebzigern erste Breschen schlugen. Jedem ISAN-Track liege eine Assoziationskette von Begriffen zugrunde, jedem Album eine Vielzahl von Stimmungen, die zunächst schriftlich festgehalten und dann in unterschiedlicher Abfolge ausprobiert werden. Auf Beautronics liest sich das etwa so: „pastoral moomin norwegian. tired woozy. potholing inebriate in space. anthemic regretful hellish undertow..." ISAN, das ist auch eine außergewöhnliche Kommunikationsweise zwischen zwei Musikern, die sich, obwohl räumlich getrennt und nur durch Internet und Telefon verbunden, geschmacklich sehr nahe sind. Kein Track entsteht gemeinsam, dennoch klingen sie so einheitlich, organisch und stilsicher, daß es schwierig ist, sie zwei verschiedenen Persönlichkeiten zuzuordnen. Dies ist um so verwunderlicher, als sie oftmals anderer Meinung sind, z.B. was die neueste Platte von ENO anbelangt oder TRANS AM oder die beste Heavy Metal-Band. „Creative dissent" nennen sie das und grinsen. Einig sind sie sich nur bezüglich der Käfer, die in ihren Instrumenten wohnen. Sie drücken auf einen Knopf und drehen an einem Regler, aber nichts passiert. Da ist dieses Knispern, Rascheln und Zirpen: Insekten, die Maschinen stürmen und an den Grundpfeilern unseres Universums nagen.

Wer auf verzerrte Gitarren steht, auf Krawall und musikalische Widerstandsrituale, dem gehen bei ISAN leicht die Nerven durch. Aber in einer Zeit, in der Popmusik längst ihre Unschuld und ihren rebellischen Charakter verloren hat und integrativer Bestandteil der Gesellschaft geworden ist, liegen im totalen Lärm und der zirpenden Stille vielleicht die letzten Zufluchtsorte unabhängiger Musik. Aber vielleicht ist dieser Rückzug auch die totale Kapitulation: die Einsicht, daß es keinen Sinn mehr hat, etwas bewegen zu wollen, weil ohnehin alles in Beliebigkeit verpufft. Vielleicht ist es aber auch der alte Glaube daran, daß jedes Kunstwerk irgendwie die Welt verändert. An diesem Punkt kommt der zerbrechliche Ambient-Sound von ISAN dem songorientierten Erfolgsmodell LADYTRON erstaunlich nahe. Beide Bands haben einen hohen ästhetischen Anspruch, und beide müssen mit dem Vorwurf leben, retro zu sein.

„Our politics is aesthetics", sagt Reuben Wu von LADYTRON, der auch die Cover-Illustrationen zeichnet, und wenn Bandkollegin Mira Aroyo davon spricht, daß sie die Retro-Schublade ebenso ablehnt wie einen neuen Futurismus, klingt das nach den Seiten-
pfaden, auf denen sich ISAN gern herumtreibt. Mira: „Wenn du durch eine Straße gehst, stehen die unterschiedlichsten Gebäude nebeneinander und, egal ob sie vor 500 Jahren gebaut wurden oder gestern, du benutzt sie auf die gleiche Art und Weise, und das ist Jetzt, das ist modern." Nicht jeder, der einen alten Synthesizer benutzt, ist automatisch retro. Die Vorstellung von einem Universum, einem linearen Kontinuum, in dem man sich nur vorwärts oder rückwärts bewegen kann, ist veraltet. Alles ist kombinierbar, alles kann gleichzeitig existieren. Dies wird auch an den Instrumenten deutlich, die beide Bands benutzen. Es sind zwar in beiden Fällen alte Analog-Synthies wie der MS 20, aber die Sounds, die ihnen entlockt werden und die sonstige Verwendungsweise sind sehr unterschiedlich, bei ISAN eher süß und lieblich, und bei LADYTRON eher fett und dunkel.

ISAN und LADYTRON erschaffen auf sehr unterschiedliche Weise Kunstwelten jenseits unseres Raum-Zeit-Gefüges. Selbst die KRAFTWERK-Ästhetik war nie so eindimensional futuristisch, wie oft behauptet wird, man denke nur an den Volksempfänger von „Radio-Aktivität", das Design von „Transeuropa Express" und die krautigen oder fast schlagerhaften Exzesse. Hier wurden ebenfalls Seitenpfade eröffnet, die aus dem linearen Kontinuum ausbrechen. Leute, vergeßt endlich die Achtziger! Zerstört die Raum-Zeit, das Universum ist größer.

M. G. Burgheim

ISAN, „Lucky Cat" ist Anfang Juni beim Berliner Label Morr Music erschienen.

LADYTRONS Debüt „604" erschien bei Labels/ Invicta Hifi.

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