Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ritt auf der Nachtmähre

Zwei Protokolle aus Schlummerland

Wie wirklich ist die Realität? Wie wahr ist der Traum? Von unseren Träumen bleiben meist nur vage, unvollständige Mitschnitte in zweifelhafter Bild- und Tonqualität. Comics scheinen prädestiniert zur Darstellung dieser Traumwelten durch die Stilisierung der Zeichnung, die der Eindeutigkeit des Filmbildes entgeht wie auch der Umständlichkeit des geschriebenen Wortes, das der Unmittelbarkeit des Bildes entgegensteht.

Der französische Comicerzähler David B. ist ein Meister in der Kunst der Traumerzählung. Gleich mit seinem ersten Buch, Das bleiche Pferd deÞniert er seinen unverwechselbaren Stil, der einen klaren, präzisen Strich mit ruhigen Schwarzflächen und Schraffuren zur Entwicklung bizarrster und dennoch auf Anhieb verständlicher BildÞndungen nutzt. Er zeichnet ohne glättende dramaturgische Eingriffe seine Träume: Reisende in einem Labyrinth wohnen einer seltsamen Zirkusvorstellung bei; ein Elefant quartiert sich bei David B. ein, er trocknet aus, wird zum Möbelstück und daraufhin David B. selbst zum Elefanten, der die Stadt mit Dunkelheit überzieht und einem Mädchen nachstellt. David B. erklärt seine Träume nicht, wichtiger als eine Analyse seines Innenlebens ist ihm die poetische Qualität der Ergebnisse seiner Traumforschung.

Der Spanier Max war zunächst, in den achtziger Jahren, ein typischer Vertreter der stilisierten New Wave-Punk-Ästhetik und geriet mit ihrem Ende rasch in Vergessenheit. Die Energiestöße, die das „L`Association"-Umfeld der Comicszene verpaßten, bescherten Max einen neuerlichen Kreativitätsschub. Mit Träumen oder vielmehr mit einem Traum befaßt sich Max im nun auf deutsch vorliegenden Buch Der lange Traum des Herrn T.

Anders als David B., der seine eigenen Träume erzählt, handelt es sich hier um den fast achtzig Seiten umfassenden Traum des Þktiven Protagonisten Cristobal T., einem gehemmten Angestellten, dessen unterdrückte Triebe und Wünsche sich in einem gewaltigen Traum entladen, der ihn vor dem Wahnsinn bewahrt. Bevölkert wird dieser Traum von dem Verleger und Unhold Scallywax nebst seiner begehrenswerten Töchter sowie dem weisen chinesischen Schriftsteller Su. Cristobal T. wird wie die Unschuld vom Außertraumlande durch den Traum gejagt, bis er zuguterletzt erkennt, daß die beteiligten Figuren nur unterdrückte Teile seiner selbst sind. Eine letztlich doch etwas zu klassisch-psychoanalytische Selbstläuterung im Traum, die dem Leser keinen Interpretationsspielraum mehr läßt. Bleibt das Vergnügen, dem im Nachhinein immer rationaler wirkenden, aber unterhaltsam erzählten Traumgeschehen zu folgen.

Kai Pfeiffer

David B.: Das bleiche Pferd. Reprodukt Verlag Berlin 2001. DM 9,90

Max: Der lange Traum des Herrn T. Reprodukt Verlag Berlin 2000. DM 19,90

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  Ausgabe 07 - 2001