Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901

14. Juni bis 11. Juli

Gegen die Verteuerung des Zuckers hat der Verband der selbständigen Conditoren Stellung genommen und beschlossen, dem Reichstag eine Eingabe zu übermitteln, mit dem Ersuchen, für die Verbilligung des Zuckers zu wirken und den gegenteiligen Bestrebungen des Zuckerkartells entschieden entgegenzutreten.

Ein durchgehendes Automobil sorgt am 2. Juli Unter den Linden für große Aufregung und heillose Verwirrung. Vor dem Hotel Bristol halten mehrere Automobile, die den hier weilenden Rennfahrern gehören. Von einem der Fahrzeuge löst sich der Betriebshebel, der Wagen setzt sich in Bewegung. Da niemand zur Stelle ist, der die Einrichtung des Automobils kennt und den Wagen aufhalten kann, saust das führerlose Gefährt die Linden entlang, so daß die entgegenkommenden Droschken und Equipagen ihm nur mit Mühe ausweichen können. An der Ecke Friedrichstraße jagt der Durchbrenner gegen die Vorderschwelle und kommt zum Stehen, da er das Hindernis nicht zu nehmen vermag. Der Besitzer, der den Ausreißer in einem zweiten Automobil verfolgte, kann ihn hier in Empfang nehmen.

Der französische Automobil-Club hat Schritte eingeleitet, um wegen der zu erwartenden Aufhebung der Automobil-Straßen-Wettfahrten diesem Sport eine eigene Rennbahn zu schaffen. Sie soll nahe Brüssel in Tervueren als ein riesiges Autodrom für internationale Wettrennen begründet werden. Der Name Autodrom leitet sich von den Vorbildern Hippodrom und Velodrom ab. Daß eine Rennbahn für Automobilwagen eine Notwendigkeit geworden ist, hat die große Fernfahrt Paris-Berlin gezeigt. Man will in Frankreich nicht länger die Landstraßen für solche gefährlichen Schnelligkeitsprüfungen freigeben. Eine Rennbahn wird allein diesen Sport populär machen können, weil der Kampf sich in Gegenwart vieler Zuschauer abspielt, daß sie die einzelnen Phasen eines noch so langen Rennens beständig beobachten können.

Die Militärbahn Berlin-Zossen wird derzeit von zwei Compagnien der Eisenbahnbrigade für Schnellfahrversuche vorbereitet, indem der Oberbau der Bahnstrecke angemessen verstärkt wird. Die Schnellfahrversuche auf der Studienbahn sollen in der zweiten Augusthälfte beginnen.

Fünfzig amerikanische Straßenbahnwagen sollen bereits im August aus St. Louis nach Berlin geliefert sein. Sie sind nach Anordnungen des Eisenbahnministers eingerichtet und nach dem System der „Convertable Cars" gebaut. So gestattet die Konstruktion dieser Wagenklasse eine sofortige Umwandlung des offenen Gefährts in ein geschlossenes und umgekehrt. Dies wird durch das Herab- beziehungsweise Heraufziehen der Fensterscheiben bewirkt. Die Wagen sind vierachsig, mit einer Luftbremse versehen und haben Platz für 40 Personen. Ursprünglich hatte man Sitze anbringen wollen, die, wie bei den Wagen der Linie Treptow-Zoologischer Garten, je nach Fahrtrichtung umgeklappt werden sollten. Auf Wunsch des Herrn von Thielen sind die Sitze aber coupéartig angeordnet worden. Die in den Wagen zur Verwendung gekommene amerikanische Akazie wächst in ausreichender Menge nur in Missouri. Jeder Wagen kostet circa 50000 Mark.

Eine der ältesten Omnibuslinien der Stadt, die Strecke Rosenthaler Thor- Potsdamer Brücke der Allgemeinen Berliner Omnibus-Gesellschaft, wird eingestellt. Dafür wird eine neue Linie Schönhauser Thor-Potsdamer Brücke eröffnet. Die Wagen durchfahren die Alte und Neue Schönhauser, Rosenthaler Straße, Neue Promenade, Burgstraße, Schloßplatz, Werderschen Markt, Oberwallstraße, Hausvogteiplatz, Mohren-, Wilhelm-, Leipziger und Potsdamer Straße.

Schon wiederholt hat die Gemeinde Lichtenberg an den Berliner Magistrat das Verlangen gerichtet, nach Berlin eingemeindet zu werden. Nach Einsicht des letzten Haushaltsplanes der Gemeinde Lichtenberg scheinen dem Berliner Magistrat weitere Verhandlungen zwecklos, Oberbürgermeister Kirschner macht dem Gemeinde-Vorstand entsprechende Mitteilung.

Die Schriftstellerin Helene Stöcker, auch durch ihre Tätigkeit in der Berliner Frauenbewegung bekannt, besteht, nachdem sie unter anderem sechs Semester an der Berliner Universität Philosophie, deutsche Literatur und National-Ökonomie studiert hat, das philosophische Doctorexamen magna cum laude in Bern. Ihre Dissertation behandelt „Wackenroder und die Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts".

Das Sommerfest in der städtischen Irrenanstalt zu Dalldorf findet am 6. Juli nachmittags im Wald nahe der Anstalt in fröhlicher Weise statt. Es ist ein hübscher Brauch, den Patienten der Anstalt jeden Sommer eine solche Feier zu bereiten, bei der sie sich in ungebundener Heiterkeit in der freien Natur, nicht eingeengt von Mauern, Fenstergittern und verschlossenen Türen, vergnügen können. Um 3 Uhr nimmt das Fest seinen Anfang, unter Bäumen wird gelagert, Kaffee, Schnecken und anderes Backwerk wird serviert. Es beginnen harmlose Spiele wie Blinde Kuh, den Dritten abschlagen usw. Die Kapelle der Anstalt mit einigen sehr guten Musikern spielt dazwischen zum Tanz auf. Zur Erfrischung gibt es Braunbier und Mineralwasser, gegen 7 Uhr wird das Abendessen eingenommen. Fast 350 Patienten haben die Erlaubnis zur Teilnahme an diesem Fest erhalten, natürlich unter Aufsicht zahlreicher Wärter.

Falko Hennig

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