Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901

17. Mai bis 13. Juni

Die ersten Werderschen Kirschenwerden Ende Mai erwartet, da sich die Früchte, begünstigt durch die warme Witterung, ganz rapid entwickelt haben. Der Obstdampfer „Franz", der zur Zeit der Kirschenernte mehrere Zillen mit Obst und das Logierschiff „Der lange Esel" schleppt, wird Anfang Juni seine Fahrten beginnen.

Dem weitverbreiteten Irrtum, dass man befugt sei, einem Knaben, den man auf einer Unart ertappt, auf der Stelle eine kleine Züchtigung angedeihen zu lassen, ist auch der Hausbesitzer Bähne zum Opfer gefallen. Am 17. Mai steht Bähne vor dem Schöffengericht. Er besitzt ein Haus in der Memeler Straße und hat die Aufsicht über einen an sein Haus stoßenden unbebauten Platz übernommen. Dieser nun wurde zum Tummelplatz für die dortige Jugend, die Knaben bauten dort zu ihren Spielen Gruben, warfen mit Steinen und trieben auch sonst, von Bähne fortwährend gejagt, allerlei Unfug. An einem Apriltag erwischte er einen elfjährigen Knaben, der der Aufforderung, die Grube zu verlassen, nicht Folge leisten wollte. Bähne zog ihn hervor und versetzte ihm eine Ohrfeige und will nicht daran gedacht haben, dass er in der Hand ein Schlüsselbund hielt. Der Knabe erlitt dadurch eine leichte Anschwellung am Hinterkopf. Der Staatsanwalt beantragt eine Geldstrafe von 50 Mark, während Verteidiger Leop. Meyer dem Angeklagten das Recht zugesteht, einem unnützen Knaben einen kleinen Denkzettel in Form einer Ohrfeige zu versetzen. Das Gericht folgt jedoch dem Staatsanwalt.

Dem soeben erschienenen Verzeichniß der Teilnehmer an den Fernsprechnetzen pro April 1901 fügt das Königliche Polizei-Präsidium, Abteilung für Feuerwehr, eine instruktive Erläuterung für Feuermeldungen durch Fernsprecher bei. Von jedem Berliner Fernsprechamt führt bekanntlich eine besondere Leitung zur Feuerhauptwache Lindenstraße 41. Die Feuerhauptwache nimmt die Feuermeldung entgegen und alarmiert dann die Feuerwache, in deren Bezirk der Brand entstanden ist. Beim Feuermelden ist ruhig und deutlich zu sprechen und besonderer Wert auf die richtige Bezeichnung der Straße und Hausnummer zu legen, um Verwechslungen vorzubeugen. Zu diesem Zweck empfiehlt sich auch die Angabe der nächsten Querstraße. Die Feuermeldung wird von den Beamten der Feuerwehr wiederholt. Hierauf sind noch der Name und die Fernsprechanschlußnummer des Meldenden anzugeben. Zum Zwecke der Erleichterung der Meldung ist ein Abschnitt beigefügt, auf welchem das zuständige Amt und die Nummer der Leitung zur Hauptfeuerwache, sowie der nächste Feuermelder einzutragen, und welcher über oder neben dem Apparat an der Wand zu befestigen ist. Der Prämienanspruch bleibt auch per telephonischer Meldung bestehen.

Die Mintras aus Singapore, die zur Zeit in Castans Panopticum zu sehen sind, erregen großes und berechtigtes Interesse bei allen Besuchern dieses volkstümlichen Vergnügungs-Etablissements. Die Mintras waren bisher in Europa eigentlich so gut wie gar nicht bekannt, wie denn überhaupt Bewohner der Halbinsel Malakka und der zu ihr gehörenden Inselgruppen, zu denen ja auch das englische Eiland Singapore zählt, in Europa noch nie öffentlich gezeigt worden sind. Die Mintras sind eigentlich ein Schifffahrt treibendes Volk, haben aber eine ausgeprägte Veranlagung zur Seeräuberei.

Bei einer Razzia durch Verbrecherlokale macht die Criminalpolizei am 20. Mai einen guten Fang mit der Festnahme eines gefährlichen Einbrechers und alten Zuchthäuslers namens Paul Koch. Das eifrig tätige Mitglied der bereits hinter Schloss und Riegel sitzenden Einbrecherbande Schlutt und Genossen befand sich bisher noch auf freiem Fuß und hat neuerdings eine Reihe größerer Einbruchdiebstähle in Berlin, Friedenau, Steglitz und auch in Stettin verübt. In Verbrecherkreisen trug Koch den Spitznamen „Malerpaul". Eine große Menge Verbrecherwerkzeuge und gestohlene Gegenstände, sowie Pfandscheine und falsche Legitimations-Papiere wurden ihm abgenommen, unter anderem ein grüner Sommerüberzieher mit gelbseidenem Sergefutter, im Aufhänger die Firmenbezeichnung „Gottl. Weiß, Berlin W., Schöneberg."

Die unter der Anschuldigung der Mitwisserschaft an dem Bobbeschen Verbrechen verhaftete Frau Helene Stäger bestreitet entschieden, etwas von der geplanten Untat gewusst zu haben. Sie will zur Zeit des Verbrechens bei der Ehefrau des Bobbe gewesen sein. An diese schreibt sie aus dem Gefängnis heraus: „Du kannst mir doch bezeugen, daß ich von 9 Uhr früh bis 10 bei Dir war, also an dem fluchwürdigen Verbrechen keinen Theil habe. Wußtest Du etwas von der Grube? Hast Du je etwas Verdächtiges an Deinem Manne bemerkt? Gieb mir einen Theil Deines Gottvertrauens! Bete, daß ich nicht wahnsinnig werde! Muß ich noch lange hier bleiben, dann gehe ich zu meinen Kindern. Ich sehe sie noch vor mir in blühender Gesundheit. Gott im Himmel mag ihm, der sich so gut stellte, verzeihen. Warum mordete er mich nicht auch?"

Falko Hennig

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  Ausgabe 05 - 2001