Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Krieg und Frieden vor der Linse

Der Fotograf Arkadij Schaichet

Schon mehrfach ergänzte das Deutsch-Russische Museum Karlshorst seine neue, umfangreiche Dokumentation des Zweiten Weltkriegs im Osten durch Werkschauen sowjetischer Kriegsfotografen. Manche dieser Bilder von Front und Hinterland gehören in Russland fest zum kollektiven Bildgedächtnis, im Westen blieben sie trotz ihrer dokumentarischen und künstlerischen Qualität lange unbeachtet. Eine aktuelle Ausstellung ist Arkadij Schaichet gewidmet.

Vor dem Krieg war Arkadij Schaichet (1898-1959) ein vielbeschäftigter Bildjournalist, dessen innovativer Kamerablick sogar Kraftwerkseinweihungen und Funktionärsversammlungen überraschende Bilder abgewann. Doch nicht immer lichtete der Künstler ab, was Parteirichtlinien und Presse erwarteten. Neben dem Alltag des neuen Sowjetmenschen in weitläufigen urbanen Räumen machte er auch die offiziell nicht vorhandene Not auf dem Land zu seinem Thema: Ein Bild zeigt zwei Landstreicher in traditionellen Strohschu-hen bei der Teepause am Wegrand, ein anderes Frauen und Kinder, die im Rahmen der „Entkulakisierung" ausgestoßen wurden.

Kameraperspektiven wie die schräge Draufsicht auf einen Zug im Kiewer Bahnhof oder die geschickte Nutzung sich wiederholender, strukturgebender Elemente bei der Aufnahme einer Kolonne skifahrender Rotarmisten weisen Schaichet als Mitglied der russischen Fotoavantgarde aus. Deren Protagonisten diskutierten heftig und endlos über Formalismus, Naturalismus und eine angemessene Darstellung der neuen gesellschaftlichen Realität und wurden 1938 vielfach Opfer der „Säuberungswellen". Auch Schaichet wurde von seiner Redaktion entlassen, wich in die Provinz aus und wechselte mit Kriegsbeginn 1941 als Bildkorrespondent zur „Frontillustrierten". Bis 1945 fotografierte er, oft unter Lebensgefahr, an vielen Kampfschauplätzen. Ein winterlicher Panzervorstoß von großer bildlicher Dynamik, vorwärtsstürmende Soldaten und eine strahlende Partisanin nach der Befreiung hängen neben verhärmten Flüchtlingen, mühselig pflügenden Bauern und einem Schlachtfeld bei Stalingrad, dessen zerstörtes Kriegsgerät keiner Seite mehr zuzuordnen ist. Im Gegensatz zu vielen deutschen KriegsfotograÞen, die russische Gefangene vorführen und in den Bildunterschriften verhöhnen, eignet Schaichets Aufnahmen deutscher Gefallener und Kriegsgefangener kein triumphierender Blick. Sie lassen Entsetzen über die große Katastrophe und trotz allem auch Mitleid erkennen. Fotos vom März 1945, auf denen beladene Flüchtlinge im Geschützfeuer ihren Weg aus dem brennenden Danzig suchen, versah der Fotograf mit der Unterschrift „Auch sie haben das Böse erfahren."

Annette Zerpner

Fotoausstellung „Arkadij Schaichet: Dokument und Konstrukt" noch bis zum 27.5. im Deutsch-Russischen Museum, Zwieseler Str. 4, Karlshorst, Di-So 10-18 Uhr

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