Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ben Johnson gegen Mercedes E 280

Der Autoverkehr erzwingt seine Vorrechte durch die Androhung und Ausübung von Gewalt

„Man muß sich vor Augen halten, daß Normen auf keinem anderen Gebiet in das Leben selbst so unmittelbar eingreifen wie Verkehrsvorschriften", schrieb das Bundesverkehrsministerium 1970 in die „Begründung" zur Straßenverkehrsordnung (StVO).

Die (übliche Interpretation der) StVO ist tatsächlich für die meisten Menschen ein Regelwerk, welches sie auf Schritt und Tritt (auf´s Fahrrad- oder Gaspedal) beherrscht, sobald sie einen Fuß vor die Tür setzen. Fußgänger sollen sich dem Takt der Autoampeln unterwerfen, Radler Einbahnstraßen-Regelungen beachten usw. Auch wenn die Paragraphen der StVO die mit Abstand am häufigsten gebrochenen staatlichen Verhaltensregeln sind, gelten sie dennoch in den Augen der meisten modernen, also vom Auto erzogenen Menschen, als notwendig und wohlbegründet. Und zwar wegen der Verkehrssicherheit, also aus Respekt vor dem menschlichen Leben!

Doch „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" ist schon in Artikel 2 des Grundgesetzes festgeschrieben – zusammen mit der Unverletzlichkeit der „Freiheit der Person", nicht der des Autos. Der nächste Satz lautet allerdings: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden." Die StVO ist zwar eine „Verordnung" (vom Bundesrat beschlossen), doch wird sie durch das Ermächtigungs-Gesetz § 6 (1) StVG gedeckt.

Die Anfänge der StVO

Inwieweit die StVO (seit 1934) und ihre Vorgänger aus den 20er Jahren wirklich jemals aus der ehrlichen Sorge um die Gesundheit ins Leben gerufen wurden, bleibt Spekulation. Denn über Allgemeinplätze („Ordnung schaffen") hinausgehende Begründungen für Maßregelungen der von Natur aus so wendigen und Spontaneität erlaubenden Verkehrsarten wie zu Fuß gehen und Radfahren wurden nur äußerst spärlich gegeben. Deshalb, und nicht um die StVO einfach als Nazi-Erfindung zu diffamieren, zitiere ich aus der Doktorarbeit von J. Esser, der 1936 über den „durch die nationalsozialistische Revolution geschaffenen Auffassungswandel" philosophierte und dabei frei heraus sagte, worum es ging (und geht): „Bei uns im Reiche hörte man nur von Gesetzen, die das arme Individuum einengten, daß es bald zu einer Qual wurde, überhaupt noch die Straße zu betreten. [!]

In Zukunft kann nicht mehr der liberalistische Individualismus als Grundgedanke des Straßenverkehrs geduldet werden, sondern der Leitgedanke der Unterordnung unter das Ganze und des Sich-Einpassens in die Verkehrsgemeinschaft hat im 3. Reiche maßgebende Anerkennung gefunden. Neben dieser ist wohl der zweite Grundzug unseres heutigen Verkehrsrechts, der wirtschaftlichen Bedeutung des Kraftfahrzeuges Rechnung zu tragen. Heute ist es allgemein anerkannt, daß Deutschland sowohl aus volkswirtschaftlichen als auch aus wehrpolitischen Gründen eine erhebliche Vermehrung seines Kraftwagenbestandes braucht. Alle diejenigen Entscheidungen, die sich nicht auf den Gedanken einer disziplinierten Gemeinschaft gründen und die die Vorrangstellung des Kraftfahrzeugs nicht in Rechnung ziehen, haben für die kommende Rechtsprechung ihre Bedeutung verloren. Wegen der großen Zahl der Unfälle, bei denen Fußgänger durch Kraftfahrzeuge verletzt oder getötet werden, hat die bisherige Rechtsprechung als einen der grundlegenden Leitsätze, der sich in einer Unmenge von Entscheidungen wiederfindet, die allgemeine Verpflichtung des Kraftfahrers aufgestellt, er müsse auf den Fußgängerverkehr Rücksicht nehmen. Nun muß man dem Kraftfahrer eine höhere Gefährdung des Verkehrs zubilligen, weil die Volksgemeinschaft am Kraftverkehr interessiert ist. Diese Entlastung des Kraftfahrers und die damit verbundene Entfaltungsmöglichkeit tat aber dem Volke dringend not, denn wenn je einmal das Vaterland in Not geraten sollte [„globaler Wettbewerb"], dann brauchen wir Fahrer, die aus ihren Fahrzeugen das Äußerste an Kraft herauszuholen fähig sind."

VW führt die Demokratie ein

Die StVO von 1934 hat jedem Kfz eine Vorfahrt eingebaut: „An Kreuzungen und Einmündungen von Straßen ist bevorrechtigt, wer von rechts kommt; jedoch haben Kraftfahrzeuge die Vorfahrt vor anderen Verkehrsteilnehmern." Die heutige Formulierung ist weniger deutlich, ihre Interpretation durch Polizei, Justiz und die parapolizeilichen willigen Vollstrecker – der Masse der Kfz-Führer – dafür letztlich um so gnadenloser. Haben Sie schon jemals in einer Fußgängerzone eine Ampel gesehen oder vermisst? Gehen Sie dort immer am Rand und über Eck statt auch diagonal? Schauen Sie dort ängstlich nach rechts und links und sprinten los, um die Straßenseite zu wechseln?

Für die heutige Generation ist es beinahe unvorstellbar, dass es bis in die 20er Jahre normal und juristisch gedeckt war, sich als Fußgänger auf der gesamten Straßenbreite zu bewegen und als Radfahrer spontan Abbiegen zu dürfen. Als 1979 Journalisten aus dem stalinistischen China den Staatsbesuch in die BRD begleiteten, wunderten sie sich über die „strengen Verkehrsregeln", die hierzulande für Fußgänger gelten. Erst als 1983 VW in China eine Autofabrik errichtete, wurde dort die „freiheitlich-demokratische Grundordnung" der BRD übernommen.

Dynamisch-individueller Flächenverbrauch

Wenn sich die Linien verschiedener Verkehrsarten kreuzen, ergibt sich ein Interessenkonflikt. Sie stehen sich gegenseitig im Wege. Doch wer steht wem mehr im Weg? Der Kleine dem Großen oder der Große dem Kleinen? Als die Oberschicht im 18. Jahrhundert noch keine staatlich gewährte Vorfahrt hatte, engagierten Kutschenbesitzer als Begleitung „Läufer", die Fußgänger nicht selten „barsch zur Seite drängten". Die Verkehrsarten unterscheiden sich in ihren Flächenansprüchen. Der Flächenverbrauch ist die Ursache von Begegnungskonflikten, also ist in die-ser Ursache auch die Lösung für die Reihenfolge des Vorrangs zu suchen.

Indem zum Anhalteweg (Reaktions- + Bremsweg) auch noch die Länge des Fahrzeugs bzw. Schrittes hinzuaddiert wird, danach die Summe mit der Spurbreite multipliziert und ggf. die Fläche durch den mittleren Besetzungsgrad dividiert wird, lässt sich der dynamisch-individuelle Flächenverbrauch (diF) berechnen (hier bei 15 km/h): Bus 2,1 qm; Fußgänger 4,5 qm; Fahrrad 6,2 qm; Smart-Pkw 8,3 qm.

Der diF ist ein objektiver Maßstab für die Reihenfolge im Konfliktfall. Wer die vom ADAC propagierte „freie Verkehrsmittelwahl" zugunsten eines sperrigen Verkehrsmittels in Anspruch nimmt, kann nicht erwarten, dass bescheidenere Flächenverbraucher dafür auch noch Spalier stehen.

Immer um den Block herum

Die Abwicklung des Massen-Kraftverkehrs baut auf der Todesangst von nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern auf. Zynischerweise machten sich Autolobby und Staat eben diese Gefahr zunutze („Nur bei Grün – der Kinder wegen") und behaupteten, sie wollten doch nur das Beste für Fußgänger und Radler. Wenn letztere artig den Regeln des Automobilismus gehorchen, werde ihnen schon nichts passieren, ähnlich wie einem Wirt, der brav Schutzgeld zahlt. Wie der genötigte Wirt, lässt die Mehrheit es über sich ergehen, solange die Benachteiligung berechenbar (Ampeltakt) bleibt.

Ist es nicht naiver Wunschglaube, weiße Linien, rote Lichter oder kleine Bordsteine könnten ein Auto stoppen? Wird damit nicht bloß die Tatsache verdrängt, dass Autofahrer mit einer kleinen Fuß- oder Handbewegung Macht über Leben und Tod haben?

Wenn Autofahrer für Ampeln bremsen können, dann doch auch für Menschen! Die Knopfdruckampel ist der Ruf nach der virtuellen Staatsgewalt. Doch diese ist z.B. in Berlin gerade einmal alle 2,2 Kilometer einer ihrer „vornehmsten Aufgaben" (Verwaltungsvorschrift), nämlich der „Sicherung des Fußgängers bei der Querung der Fahrbahn" durch Alibi-Überwege, nachgekommen. Die Autos brauchen keinen Überweg, denn sie können von einem zum anderen Ende der Stadt fahren, ohne jemals den zur „Fahrbahn" ernannten Teil der Straße zu verlassen, während Fußgänger nur um Häuserblocks ununterbrochen kreisen dürfen.

Sprint in den Tod

Der Automobilismus stellt das vielleicht bestmögliche Herrschafts- und Disziplinierungssystem dar. Für beinahe jedes ungebührliche Betreten der „Fahrbahn" folgt nämlich die Strafe auf dem Fuße. Es ist jeweils bloß eine Frage von Sekunden, bis man von potenziell tödlichen Blechkarossen geschnitten, anvisiert, angehupt oder von deren Insassen angepöbelt wird. Was den Automobilismus so erfolgreich macht, ist die Millionenschar umherpatrouillierender Disziplinierungseinheiten in Form von Autos. Die alltäglichen Prozessionen von Autokolonnen durch die Straßen gleichen ständigen unangemeldeten Demonstrationen der Macht und schüchtern weitaus mehr ein, als Gesetzbücher es könnten.

Nach Erlass der ersten StVO stiegen 36 Jahre lang (1934–70) die Todesziffern der Fußgänger an. Vom Standpunkt der Verkehrssicherheit muss sie damit als gescheitert erklärt werden. Sie hat auch nicht noch Schlimmeres verhindert, wie sich anhand der Radler-Unfallzahlen herleiten lässt. Bei gleicher Wegelänge sterben mehr Fußgänger als Radfahrer, obwohl letztere sich zumeist auf der „Fahrbahn" bewegen.

In Städten mit vielen Zebrastreifen, also dort, wo Kraftfahrer häufig mit spontanen „Fahrbahn"-Begehungen rechnen, ist die Unfallquote niedriger. Weil man im Auto sitzt, entsteht der fatale Eindruck, es seien bloß die Anderen, die sich bewegen, die einem „ins Auto laufen" oder „plötzlich" hinter geparkten Autos hervorlaufen. Doch was sind die 36 Stundenkilometer, die Ben Johnson auf 100 Metern lief, gegen die 50 Stundenkilometer, mit denen fahrende Autos hinter geparkten auftauchen?

Markus Schmidt

gekürzt aus: InformationsDienst Verkehr IDV Nr. 65, Dezember 2000

Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema ist in der Reihe Verkehr Kompakt mit dem Titel „Vorfahrt eingebaut"erschienen und erhältlich für 7,50 DM in Briefmarken oder auf Rechnung bei UMKEHR e.V., Exerzierstr. 20, 13 357 Berlin,
fon 492-7473, fax 492-7972, info@umkehr.de

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