Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der Traum vom großen Coup

Das Knasttheater aufBruch bearbeitet den Gladowbanden-Mythos

Das Knasttheater aufBruch gibt es seit 1997. Seitdem hat die Gruppe um den Regisseur Roland Brus und den Bühnenbildner Holger Syrbe jedes Jahr ein bis zwei Inszenierungen mit Tegeler Gefangenen vorgelegt. In diesem Jahr geht es um Werner Gladow, der mit seiner Bande das Nachkriegsberlin der Blockadezeit unsicher machte und der nach einem spektakulären Prozess 1950 in Frankfurt/Oder unter dem Fallbeil starb.

Der 1. Teil Vom Wert ehrlicher Arbeit ­ der Mythos der Gladowbande: Berlin wird Chicago! nach einer Stückvorlage von Kohlert & Neugebauer hatte am 17. März 2001 im Theater am Halleschen Ufer mit Schauspielern und Freigängern Premiere, Für den 2. Teil Gladow-Casting ­ Das 11. Gebot. Das Gefängnis als unmoralische Anstalt, als Schule des Verbrechens mit Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Tegel begannen Ende April die Endproben. Mit Roland Brus und Holger Syrbe sprach Annett Gröschner.

Wie kam es zur Gründung des Knasttheaters aufBruch?

Roland Brus: Wir haben 1992-95 das Obdachlosentheater „Ratten" gemacht. Es war oft so, dass vor Premieren die Jungs in den Knast einfuhren, und wir mussten sie rausholen. Und da haben wir uns überlegt, dass wir auch im Gefängnis spielen sollten. Wir haben damals mit Mitgliedern der „Ratten", Schauspielern und Musikern eine Performance auf den Fluren einer Tegeler Teilanstalt gemacht. Sie hieß „Bohrinsel Tegeler See" und war voller Anspielungen auf den Knastalltag. Am Ende hatten wir zwanzig neue Mitspieler. Das war der Beginn der Gruppe.

Holger Syrbe: Für mich war der Beweggrund, bei aufBruch einzusteigen, dass das Gefängnis an sich eine theatrale Institution ist, ein Ort mit ganz vielen Ritualen, mit Codes, und dieser Ort wird von der Gesellschaft ausgeblendet. Ich selbst wusste vorher auch wenig darüber. Das Gefängnis sichtbar zu machen, es in ein öffentliches Bewusstsein zu bringen und es in einem anderen Kontext zu diskutieren, als es beispielsweise die Presse tut, das ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der Arbeit geblieben. Die Gefangenen selbst beschreiben ihren Alltag als Theater. Sie sagen, Theater beginnt bei uns frühmorgens um sieben mit der Lebendkontrolle und danach muss man eine Rolle spielen. Wir wollten diese Rollen aufbrechen und eine neue Form von Theaterspielen eröffnen.

Roland Brus: Es war zum einen eine anthropologische Neugier, die große Frage von Georg Büchner: „Was ist es, das in den Menschen lügt, hurt und stiehlt?" Theater im Knast führt zu den großen Fragen des antiken Theaters nach Schuld und Strafe zurück. Im Gefängnis guckt man wie in ein Brennglas, alles wirkt vergrößert. Daran wollten wir nicht nur uns, sondern auch Zuschauer von draußen teilhaben lassen. Und das war für uns eine große Herausforderung. Viele Gefangene glaubten ja am Anfang, wir seien getarnte Bullen oder Psychologen, zumal die Assistentin immer alles mitschrieb. Das war sehr unvertraut, weil das Gefängnis ja stets vom Misstrauen, von der Denunziation, vom Verrat lebt. Inzwischen genießen wir das Vertrauen der Anstaltsleitung und der Gefangenen. Wir haben einen großen Freiraum, weil wir nicht innerhalb der Knastmechanik operieren, auch keine Gelder vom Gefängnis bekommen und immer wieder sagen können: Unter den Bedingungen machen wir es nicht. Wir lehnen kategorisch ab, zu irgendwelchen Konferenzen zu gehen, um irgendwelche Einschätzungen über die Leute abzugeben. Wir sind nicht zur Disziplinierung von Gefangenen da. Wir sind die Spinner von draußen.

Habt ihr damals schon gewusst, welcher bürokratischen Apparat euch erwartet?

Roland Brus: Bevor wir aufBruch gründeten, mussten mit der Gefängnisleitung erst einmal die Arbeitsbedingungen ausgehandelt werden. Es war klar, es gibt unendlich viele bürokratische Hürden und man stößt immer wieder an Grenzen. Als wir „Räuber" machten und sagten, wir brauchen Waffen, da hieß es natürlich: „Um Gotteswillen, sind Sie wahnsinnig, nicht mal Attrappen". Es gibt Tabus und über jedes muss man verhandeln. Vor drei Jahren wäre der Einsatz einer Leiter wie in Becketts „Endspiel", das letztes Jahr lief, unmöglich gewesen. Das Baugerüst für das Gladow-Stück war jetzt gar kein Thema mehr.

Holger Syrbe: Eine Leiter muss allerdings immer am Heizungsrohr angekettet sein. Bevor wir angefangen haben, war ja Theater mit solcher Öffentlichkeitswirkung und mit Zuschauern von draußen in Deutschland noch unbekannt. Es gab Berührungsängste auf beiden Seiten. Die Gefängnisleitung gab ja einen Teil ihrer Fürsorge aus der Hand, wenn sie uns mit den Gefangenen alleine ließ. Bei dem allerersten LKW-Transport, den ich ins Gefängnis gemacht habe, wurde das gesamte Auto auseinandergenommen, weil vorne ein Stück abgerissene Zellophantüte gefunden wurde und man das für eine Heroinverpackung hielt. Prinzipiell muss bis heute jedes Requisit angemeldet werden. Das ist ein großer organisatorischer Aufwand, aber die Anstaltsleitung ist der Sache durchaus wohlgesonnen.

Manchmal erinnert mich eure Arbeit stark an das Theater in der DDR. Ihr seid ja ein Theater, das noch direkt mit dem Staat konfrontiert ist.

Roland Brus: Die Bedingungen des Gefängnisses schaffen einen Code wie im DDR-Theater. Unser erstes Stück „Stein und Fleisch", was angesiedelt ist im alten Rom, unter Galeerensklaven, operiert genau damit, dass man sagt: „Dies ist kein Stück über Tegel" und gleichwohl versteht jeder der Gefangenen und der Zuschauer unentwegt: es gibt einen Gegner, den repressiven Apparat. Das ist analog mit einer Diktatur. Man spürt das existenzielle Moment und die Gefährdung, der sich die Darsteller aussetzen. Das Theater produziert plötzlich wieder Erfahrung, soziale, ästhetische oder politische.

Holger Syrbe: Spannendes Theater ist immer politisch. Wir können zeigen, dass auch in dieser Gesellschaft Ansätze von Diktatur existieren. Aber das ist nur ein Moment. Wir untersuchen auf verschiedene Weise Realität und packen sie in eine theatrale Form. Inzwischen sind wir dazu übergegangen, Doppelprojekte zu machen. Es gibt ein gemeinsames Thema, ein Stück spielt im öffentlichen Raum der Stadt und das andere im Gefängnis.

Das Interessante für mich bei den Proben im Gefängnis ist das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst. Wann fängt das Spiel an? Ist das etwas, was man jedem neu dazukommenden Gefangenen erst beibringen muss?

Roland Brus: Man muss es jedem Einzelnen, der neu hinzukommt, erst einmal vermitteln. Das heißt, wir lassen biografische Momente in das Stück einfließen, verfremden das aber in einem zweiten Schritt, indem wir das Material ins Absurde, Groteske und Übersteigerte transformieren. Man muss immer wieder neu setzen, dass das Theater der Raum ist, wo man alles ausprobieren, wo man über die Stränge schlagen kann. Aber die Kunst muss dem Raum immer wieder abgerungen werden. Bei Tegel-Alexanderplatz war es der Tegelmarsch, den die Gefangenen selber geschrieben haben. „Das ist der Tegelmarsch, unser Leben ist im Arsch". Zwanzig Franz Biberköpfe marschieren gegen die Wachloge und skandieren das, und das Publikum skandiert mit. Wir versuchen die Würde, die solche proletarischen Figuren wie Biberkopf in der Literatur bekommen haben, den Gefangenen wieder zurückzugeben. Bei diesem Projekt sind wir rausgegangen in die Öffentlichkeit und haben wir versucht, die Kontrollmechanismen des Gefängnisses im öffentlichen Raum zu überprüfen. Am Alexanderplatz waren es die Videokameras, die Wachmannschaften, der Bundesgrenzschutz. Draußen ist das Verweilen sofort eine Störung, drinnen ist Stillstand und Verwahrung.

Wie seid ihr auf den Gladow-Stoff gekommen?

Holger Syrbe: Der Gladow-Stoff behandelt ganz viele Motive, mit denen wir im Gefängnis immer wieder konfrontiert sind. Also dass man in dieser Gesellschaft auf normalem Wege nicht das erreichen kann, was man will, von der Gesellschaft aber immer wieder suggeriert wird, dass man alles haben kann. Gladow hat in einer historischen Umbruchsituation auf kriminelle Weise versucht, ein Stück vom großen Kuchen abzubekommen. Die Nachkriegszeit ist ja in gewissem Sinne vergleichbar mit der Zeit nach der Wende, wo es für einen kurzen historischen Moment gesetzesfreie Räume gab.

Roland Brus: Einerseits ist es die historische Situation, in der Gladow operiert und auf der anderen Seite ist es der Traum eines Jugendlichen, ein großer Verbrecher zu werden. Das war der Grund, warum wir zwei Stücke machen, den historischen Gladow-Stoff draußen, die Schule des Verbrechens im Gefängnis. Der Traum vom großen Coup ist oft der Grund, warum Leute in Tegel sitzen. Uns hat interessiert, wie sehen die Gefangenen Gladow, was bedeutet der ihnen. Wir nehmen die Motive Gladows: Ich gründe eine Bande und perfektioniere das Verbrechen und das konfrontieren wir mit ihren eigenen Biographien. In einer spezifischen Trainings-campsituation versuchen wir, die Zuschauer daran teilhaben zu lassen.

Wieso gibt es draußen ein fertiges Stück und im Gefängnis entsteht es erst in einem langen Prozess?

Roland Brus: Das ist eine Erfahrung. Es ist besser, wenn man im Gefängnis mit einer offenen Situation arbeitet. Ich habe Interviews geführt im Vorfeld, wir haben Improvisationen gemacht und daraus entsteht eine andere Geschichte, als wenn wir jetzt ein fertiges Stück hinlegen und sagen, lern mal den Text auswendig und spiele das. Das wird dann oft zu schnell formal. Draußen spielen wir ja zum großen Teil mit Berufsschauspielern. Da ist es immer förderlicher, ein fertiges Stück zu haben. Bei dem Stück, was Kohlert und Neubauer geschrieben haben, ging es uns um die Rekonstruktion des Mythos. Es ging darum, den Umschlagpunkt zu beschreiben: Zuerst ist Gladow ein Held, von dem die Leute auf der Straße sagen: Mensch, das war doch gar nicht so schlimm, der hat doch nur einen Pudding geklaut, bis hin zum Umschlagpunkt, wo er zum Staatsfeind Nummer eins wird. Die Brücke nach Tegel ist der Aspekt, dass Gladow auch ein Unternehmer ist. Lassen wir den kriminellen Aspekt beiseite, dann kann man sagen, viele der Gefangenen sehen sich als selbständige Unternehmer. Es gibt da einen ganz ähnlichen Arbeitsbegriff wie bei Gladow.

Muss man beide Stücke sehen, um den Zusammenhang zu begreifen?

Holger Syrbe: Um den Gesamthorizont der Gladow-Figur kennen zu lernen, wäre es schon wichtig, beide Stücke mit ihren verschiedenen Aspekten zu sehen, einerseits der Mythos der konkreten historischen Geschichte, der immer mal wieder in den Medien auftaucht und andererseits dieses Weitertragen des Mythos vom Verbrechen als Arbeit, den man nur im Gefängnis erfahren kann. Aber das ist nicht zwingend, jede Arbeit steht auch für sich.

1. Teil „Vom Wert ehrlicher Arbeit – der Mythos der Gladowbande: Berlin wird Chicago" im Theater am Halleschen Ufer am 9., 10., 12. & 13. Mai , 20 Uhr. fon 251 09 41

2. Teil „Gladow-Casting – Das 11. Gebot. Das Gefängnis als unmoralische Anstalt, als Schule des Verbrechens" Premiere am 4. Mai in der JVA Tegel, außerdem: 7., 8., 11., 14. & 15. Mai , 18 Uhr (letzter Einlass 17.30 Uhr), Karten nur mit persönlicher Anmeldung bis spätestens 7 Tage vor Vorstellung, Kasse des Hebbel-Theaters
(tgl. 16-19 Uhr) fon 25 90 04 27

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