Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Was passiert mit den 82 Millionen Stunden?

Vor einigen Sonntagen wurden fast in ganz Europa die Uhren um eine Stunde vorgestellt. In der Bundesrepublik kommen dabei von einer Sekunde auf die andere nicht weniger als 82 Millionen Stunden abhanden, die in unserer hektischen Zeit eigentlich dringend benötigt würden. Und selbst jemand wie ich, der ansonsten immer mit der Zeit geht, weiß nicht, wohin sie verschwinden! Klar ist bloß: Irgendjemand muss diese Zeit ja haben, denn am Sonntag, dem 28. Oktober, wird sie ja zurückgegeben. In der Regel wohl unversehrt und pünktlich – aber auch ohne Zinsen! Obwohl inzwischen doch jedes Kind weiß, dass Termingeschäfte bei geschickter Handhabung eigentlich sehr lukrativ sind. Wer streicht also die Gewinne ein?, frage ich.

Nun sind 82 Millionen Stunden nicht alle Zeit der Welt. Aber immerhin rund 3416666 Tage oder etwa 9360 Jahre. Da lohnt es sich schon zu ergründen, wer bis Oktober darüber verfügt, zumal niemand wirklich nachprüft, ob auch restlos alles zurückgegeben wird. Auch über die zwischenzeitliche Verwendung herrscht in der Öffentlichkeit völlige Unklarheit. Wer allerdings den sehr aufschlussreichen Roman „Momo" gelesen hat, ahnt, mit welchen Bedenken ich mich trage. Denn meine Sympathie mit den dort als Zeiträubern enttarnten „Grauen Herren" hält sich äußerst in Grenzen – wie ich überhaupt undurchsichtigen Zeitverträgen ablehnend gegenüber stehe. Wer Zeit gewinnen will, soll mit offenen Karten spielen und sich zu erkennen geben!

Ich jedenfalls möchte genau wissen, ob mit meiner Stunde Schabernack getrieben wird oder ob sie, solange es eben dauert, zumindest schonend zwischengelagert ist. Immerhin ist es ja eine der raren Sonntagnachtstunden, die der Erholung dienen sollte. Keinesfalls würde ich es deshalb erlauben, dass sie etwa für riskante und hektische Spekulationen an Terminbörsen missbraucht und ihr Erholungswert dadurch verhunzt wird. Ich habe sowieso schon keine Zeit! Und natürlich möchte ich nicht irgendeine Stunde zurück, z.B. die leitzeitorientierte Stunde des Kollegen Friedrich Merz, sondern meine eigene. Nicht dass ich noch für diese Stunde Merz in 20 Jahren die Verantwortung übernehmen muss.

Ich fordere deshalb die Bundesregierung und die für die Zeitumstellung verantwortliche Europäische Kommission auf, mir und der Öffentlichkeit sekundengenau nachzuweisen, was in der Zeit vom 25. März bis zum 28. Oktober mit den eingesammelten Stunden passiert ist. Wer hatte sie, wo waren sie und was ist damit geschehen? Das sind doch sehr zeitgemäße Fragen!

Carsten Hübner
PDS- Bundestagsabgeordneter und Zeitbeauftragter seiner Fraktion

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