Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Atomkraft 2001

Stören, bis der letzte Castor zum letzten Mal stoppt

Noch rollt der Castor weiter: Das Wendland hatte sich noch nicht vom letzten Gorleben-Transport erholt, da schickte die Atom-Industrie schon in Südwestdeutschland die nächste Strahlenpost auf die Reise ­ diesmal nach Frankreich. Im Mai ist dann Berlin-Brandenburg an der Reihe: Vom stillgelegten AKW Rheinsberg soll er nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern rollen. Was auf den Osten der Republik zukommt, lässt sich nach dem Grusel-Szenario in Niedersachsen leicht erahnen: Denn der Atomstaat wollte auch diesmal wieder alles ganz genau wissen. Letztlich rund 20000 Polizisten und Bundes-grenzschützer mit tausenden Bussen, Baggern, „Wannen", „Sixpacks", Panzern, knapp 100 Helikoptern und Pferden waren im Einsatz ­ allein diese massive Staatspräsenz schuf einen unheimlichen Ausnahmezustand in der ganzen Region. Zum Vergleich: Die Bundeswehr hat derzeit für die NATO etwa 35000 Soldaten im Kosovo stehen.Wer in der Bundesrepublik schon immer eine Schönwetter-Demokratie sah, konnte sich hier leicht bestätigt fühlen. Und das alles nur, um sechs Castor-Container mit radioaktivem Müll ins Zwischenlager Gorleben zu geleiten.

Der Grund für dieses maßlos überzogene Polizeiaufgebot im niedersächsischen Wendland ist einfach: Der so genannte Atom-Konsens der rot-grünen Bundesregierung mit der Stromindustrie ist nicht der angekündigte „Einstieg in den Ausstieg", sondern nur ein kraftloses Auslaufenlassen eines fatalen industrie-technologischen Irrwegs. Wohin mit dem Atommüll? Diese Frage ist in dem Nonsens-Konsens immer noch offen geblieben.

Deshalb kann im Wendland und auch außerhalb davon niemand wirklich daran zweifeln, dass Gorleben nicht vielleicht doch mal zum Endlager wird – ganz einfach, weil zurzeit kein echtes „Endlager" gebaut oder geplant wird.

Schließlich dürfen laut Non-Konsens die Atomkraftwerke noch mehrere Jahrzehnte lang weiter laufen, bis sie abgeschrieben sind. Dafür brauchen sie immer neue Uran-Brennstäbe, die „danach" zur Wiederaufarbeitung nach La Hague kommen. „Der WAAhnsinn geht weiter" ­ undsoweiter...

Teuerster Mülltransport der Geschichte

Angesichts dieser Aussichten war der Widerstand im Wendland wieder legitim. Das taktische Ziel der Proteste ist so paradox wie zwangsläufig: Die Transporte sollen so teuer werden, dass sie sich wirtschaftlich nicht mehr lohnen und politisch nicht mehr durchsetzbar sind. So soll der Atomausstieg an Tempo gewinnen („Ausstieg ­ sofort"), die Risiko-Technik ein Ende finden. Sicher wären die 110 Millionen Mark, die der Polizeieinsatz kostete, woanders besser ausgegeben, da besteht keine Frage. Doch kennt jemand die genauen mutmaßlichen Milliardenkosten, die durch immer mehr nicht entsorgbaren Atommüll entstehen?

Jedenfalls „besatzten" Polizeitruppen aus dem ganzen Bundesgebiet das Wendland schon Wochen vor dem teuersten Mülltransport der deutschen Geschichte, schuf sich die Staatsmacht einen eigenen rechtsarmen Raum mit rigoros eingeschränkten Grundrechten. Eine Region im Ausnahmezustand ­ das trifft die Lage. Nicht nur, dass Beamte die Telekom-Zentrale in Uelzen besetzten, die Techniker nach Hause schickten und selbst die Schalter in die Hand nahmen. Sie wollten das öffentliche Leben nach ihren Regeln außer Kraft setzen. Polizeisperren, Durchsuchungen, Überwachung, Festnahmen, Prügel, gezielte Desinformation ­ das sind nur wenige Schlagworte, die den Ausnahmezustand treffend umreißen.

Am Nachmittag des 26. März räumte die Polizei das Camp Nahrendorf, kesselte etwa 400 Leute stundenlang ein, nahm die Personalien auf ­ und notierte jede Handynummer, die sie bekommen konnten. Diese Geräte waren dann meist tagelang gestört. Im Unterschied zum Protest beim letzten Castortransport 1997 sollen diesmal etwa zehnmal soviele Mobiltelefone unterwegs gewesen sein. Zeitweise waren die Netze von D1, D2, e+, Viag Interkom und andere völlig zusammengebrochen, bzw. polizeilich gestört. Da wird das eine dem anderen nicht viel nehmen.

Widerstand mit Ausstrahlung

In zahllosen Turnhallen, Kirchenräumen, Tagungssälen, Scheunen, bei Pfarrern, Familien und in Zelten fanden hunderte Protestierer Unterkunft, Infos und viele Gleichgesinnte von überallher. Das ist das Wunderbare am Wendland: Inzwischen schon seit mehreren Generationen kämpft dieses Gebiet gegen den Strahlentod. Breite informelle und bestens organisierte Widerstandsnetze spannen sich über den gesamten Landstrich. Wer das einmal erlebt hat, kann sich soviel Zivilcourage, Bürgermut und -wut in dieser Stärke eigentlich nur für das ganze Land wünschen. Die Ideen der „Freien Republik Wendland" ­ sie sind ohne Zweifel vorbildlich. Doch das alles ist keine deutsche résistance-Romantik. Überzogen mit Strafverfahren, Einschüchterungen, Polizeiterror und anderen Drangsalen leben die Menschen hier in zwei Welten: Hier der mutige und entschlossene Widerstand, da die Atomkarawane, die weiterziehen soll.

So sollte ­ nur ein Beispiel von hunderten ­ Jochen Stay, einer der prominentesten Mitbegründer der Bürgerinitiative „x1000malquer" allein deswegen 48 Stunden in Haft schmoren, weil er ein „Rädelsführer" sei. Andere verfrachtet die Polizei nach stundenlangem Einkesseln in Züge oder Busse, lässt sie erst dutzende Kilometer vom Aktionsort entfernt wieder frei. Da blockiert die „Bäuerliche Notgemeinschaft" mit dutzenden Treckern wichtige Kreuzungen, bringen Traktoranhänger Sandsäcke zum Barrikadenbau. Atomkraftgegner und auch viele Freunde anderer Gesellschaftsformen griffen da gerne zu. Die Zahl der Aktiven wird am Ende etwa gleich groß gewesen sein wie die der Polizei.

Als der Castor trotz der Beton-Aktion der vier „Robin Wood"-Leute den Verladebahnhof Dannenberg erreicht hatte, hatte der strahlende Müll noch bei Seerau und anderen Orten Blockadeversuche, Gleisunterhöhlungen und Knüppelorgien der Polizei passiert.

„X" bedeutet Widerstand

Längst sind auch die Begriffe im Wendland klar: Widerstand ist sichtbar an den großen gelben „X"en, die als Symbol der Anti-Zwischenlager-Bewegung „x1000malquer" überall zu erkennen. Quer durch alle Gesellschaftsschichten sind Menschen aktiv, um den Transport tatsächlich unmöglich zu machen. Gewalt ist, was hier den Menschen angetan wird, Sachbeschädigung ist (fast) nur eine technische Kategorie. Wie soll man sich auch sonst gegen eine Übermacht zur Wehr setzen? Geteilt sind die Meinungen über autonome Gewalt ­ die einen sehen sie als willkommene Unterstützung, die anderen als Störenfriede eines massenhaften friedlichen Protestes. Doch die ganzheitliche Sicht zeigt auch: Bei 20000 Polizisten waren nicht wenige dabei, die einfach nur als Gewalttäter in Uniform unterwegs waren. So wollten Hundertschaften das Info-Camp auf der „Esso-Wiese" in Dannenberg von allen Seiten stürmen, schossen mit Wasserwerfern in die Menge. Als Antwort flogen Steine und Leuchtkugeln ­ ob die aber wirklich einen Polizeihubschrauber herunterholen können, ist eher fraglich. Auch agents provocateurs waren offenbar unterwegs.

Ein Einsatzleiter putschte seine Leute mit dem Gerücht auf, dass Demonstranten massenhaft Essigsäure und Zahnbürsten gekauft hätten, um Polizisten damit ins Gesicht zu spritzen. Quatsch ­ wie sich herausstellte: Kein einziger Polizist bekam Essigsäure ab. Die Flüssigkeit war schon im Februar gekauft worden, um damit ein Klärwerk biologisch zu reinigen... und die Zahnbürsten sind angesichts der hohen Zahl angereister Demonstranten auch erklärbar.

Niedersachsen im Dauerausnahme-Zustand

Trotz einer Verzögerung um 24 Stunden konnte der Atomgift-Konvoi mittels eines Tricks am Donnerstag, den 29. März um 8.10 Uhr durch die Lagertore von Gorleben fahren. Musste vor vier Jahren ein Kran den Containerzug von der Schiene auf die Straße heben, so konnten das diesmal drei Kräne unter einer Riesenhalle versteckt erledigen. Da gab die Polizei über Funk eine bewusst falsche Zeit an ­ und die Mahnwache von „x1000malquer" konnte nur noch symbolisch protestieren. Der Zug war durch.

Was bleibt ist eine niedersächsische Landesregierung die – wohl mit dem politischen Segen aus Berlin – auf gut deutsch „keinen Bock" mehr auf die Atomrollerei hat: Zu teuer – und das Bundesland im Dauerausnahmezu-stand verliert demokratische Glaub-würdigkeit. Der weiterhin nötige massive Widerstand gegen die mit „www.kernenergie.de" verzierten Castor-Transporte zeigt Wirkungen wie eine Notbremse für einen schnelleren Ausstieg. Und an dieser Bremse kann man gar nicht kräftig genug ziehen.

Torsten John

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