Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Das Après-Ski-Experiment

Leere Räume mutieren zu Straßenwohnzimmer

Das Ladenlokal im Hochparterre, ein riesiges Fenster ohne Unterteilung zur Straße hin, stand monatelang leer. Die Glasfront legte den Raum von Wand zu Wand, vom Boden bis zur Decke dem Einblick der Passanten wie einen Theaterguckkasten offen. Eine Rolle Teppichboden dämmerte nutzlos vor sich hin. Hinter dem kleinen Fenster eines Nebengelasses bröckelte eine Firmenanschrift vom Papier: "& Co OHG Säge und Stemmarbeiten". Zuletzt hat eine Gerüstbaufirma den Raum als Lager genutzt.

Dann, eines Abends, drängten sich viele Leute in dem engen Zimmer. Zwei Köche bereiteten frische Pasta zu, dass die Scheiben beschlugen. Passanten in der eher ruhigen Straße blieben stehen und sahen durch die Schlieren denen drinnen beim Essen zu. Sieht man selber auch so aus, wenn es gesellig zugeht? An einem anderen Abend wurde ein Film auf die Scheibe projiziert. Und die, die drinnen den Film ansahen, guckten in die Gesichter derjenigen, die vor der Scheibe standen und sie beobachteten.

Genau zwei Monate lang haben drei Architekturstudentinnen von der HdK das "Schaufenster mit enormer Tiefe" im vergangenen Winter als öffentliches Wohnzimmer genutzt, von Anfang Dezember bis Ende Januar. Florence Girod, Helga Blocksdorf und Catharina Förster bauten Sitzflächen ein und tapezierten den Raum – vollständig. Faustgroße Schneekristalle, in blau und rot, wanderten auf weißem Grund über Boden, Decke und Wände. Das ornamentierte Geschenkpapier war der Restposten eines Ostfabrikats. "Wir haben alles aufgekauft und den Raum damit ausgekleidet."

Zwei Aktionen fanden regelmäßig in der kleinen Bühne statt. Mittwochs bekochte man die Gäste. Sonntags wurde gemeinschaftlich "Tatort" gesehen. Das typische Wohnzimmer-Programm. War also bloß das eigene Wohnzimmer für den Freundeskreis zu klein, haben die drei einfach ein bisschen mehr Platz gebraucht? Interesse an sozialen Abläufen nennt Florence Girod als Grund für solche Aktionen. Manchmal sei sie rausgegangen und habe selber reingeguckt.

Der Name "après ski", den die Schweizerin dem Wohnzimmer gegeben hat, formuliert das Konzept: Nach den Mühen des Alltags trifft man sich an einen Ort, um dort gemeinsam zu entspannen. Und natürlich neue Leute kennenzulernen.

Zuerst traten Freunde und Bekannte in den inszenierten Raum, dann sorgte Mundpropaganda für weiteren Zulauf. Auch Anwohner und Spaziergänger, die sich trauten und den Eingang im Hausflur fanden, konnten mitessen und mitreden. Es wurden immer mehr. Am letzten Abend verteilten sich über hundert Leute auf den zwanzig Quadratmetern. "Das hat dann keinen Spaß mehr gemacht", die Menschenmasse hatte die Wohnzimmeratmosphäre zerstört.

Zu behaupten, das Ganze sei Kunst, fände Florence Girod dick aufgetragen: "Das Lustige ist gewesen, die Leute mit etwas zu irritieren, das aus dem Alltag kommt." So konnte den neugierigen Zuschauer vor dem Fenster plötzlich die Ahnung überkommen, vielleicht doch vor ganz normalem Wohnzimmerleben zu stehen. Die drinnen wollen bloß fernsehen – und draußen steht der Voyeur. Anders als bei Reality-Shows im Fernsehen ging es nicht um Geld, die Einschaltquoten waren egal. Es gab keine Nackten und keinen Sex zu sehen. Das Amüsement sei wichtig gewesen, vielleicht die Leute zu Gedanken über das eigene Wohnzimmer anregen, sich zu fragen, wie man seine Abende verbringt. Eine Kombination von Ausprobieren und Spaß.

Die massenhafte Verbreitung des halböffentlichen Wohnzimmers durch eine moderne Salonbewegung schüfe eine interessante Belebung des Berliner Straßenbildes. Wenn jeder Straßenzug sein Schaufenster hätte, könnten dauerhafte Strukturen entstehen, die über den Rahmen der befristeten Geselligkeitsaktion hinaus bleiben. Der Charme der Nutzlosigkeit, der "après ski" begleitete, müsste das ritualisierte Beisammensein natürlich weiterhin umgeben.

Seit abends kein Licht mehr im Schaufenster brennt, bleibt niemand mehr davor stehen. Die bunte Tapete löst sich stellenweise von Wand und Boden ab. Das Ladenlokal steht wieder leer. Das Haus in der Strelitzer Straße soll saniert werden. Irgendwann.

Kai Schubert

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