Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Träume vom Neuen

Die Eisenhüttenstädter Ausstellung "Das Kollektiv bin ich" erkundet individuelle Utopien in der DDR

Eisenhüttenstadt, denkt man, ist keine schöne Stadt. Schon der Bahnhof steht grau, ungerührt von der Zeit, dahinter fährt der Zug wie eh und je quer über das Pflaster weiter nach Guben. Eine lange, unbehauste Straße führt zur Stadt selbst und rechterhand zu großen Blechkisten mit Parkplatz und Reklamemast. "City-Center" steht darauf, und tatsächlich befindet sich hier, an der Mündung der alten Stadtachse, nun der Einkaufsmittelpunkt ihrer Bewohner. Man möchte das "Center" in seiner Ideen-, Geschmacks- und Anspruchslosigkeit für eine gebaute Antiutopie halten. Nur mit Mühe wird klar, dass auch das eine Art Utopie ist, die die Leute glauben macht, es sei notwendig und gut, alles allzeit billig zu kaufen. Eine Utopie, die wie andere nichts wissen will von ihrer Bedingtheit und Befristung.

Man spürt das in Eisenhüttenstadt besonders. Denn einst war dieser Ort gebaute Utopie, wenigstens in seinen ersten Jahren, seinen ersten "Wohnkomplexen", wie die Straßenkarrees bis heute heißen. Die Arbeiter des auf der grünen Wiese für sowjetische und polnische Rohstoffe neu errichteten Stahlwerks sollten in schlossartigen Häusern wohnen, nicht eben adlig, aber stattlich. Dazwischen gab es, in sorgsam gestalteten Ensembles, alles je einmal, was zum Leben außerdem für unentbehrlich galt: Theater und Bibliothek, Warenhaus, Fisch- und Tuchgeschäft, Schule, Kino und eine große Magistrale zum Spazieren. Das alles so großzügig mit Grün umgeben, dass bei lückenbaugeplagten Hauptstädtern der Neid auf&Mac223;ammt. Damals hieß das Werk Stalin, die Stadt hieß Stalin und ihr Maßstab auch. Später, als das Geld wie das Maß zu den "Grundbedürfnissen" zurückkehrten, unterschieden sich auch die neuen Wohnkomplexe Eisenhüttenstadts nicht mehr von den Plattensiedlungen anderenorts: drinnen war es warm, wohnlich, heimatlich, draußen gab es selten Auffälliges, außer man schuf es selbst.

Hoywoy in Hütte

Dass die Bewohner der DDR vieles selbst bewerkstelligen, erfinden und erdenken mussten, wollten sie es besitzen oder nutzen, darüber hat vor zwei Jahren schon einmal recht folkloristisch die Ausstellung "Eigenbau" aus Chemnitz, zeitweilig Karl-Marx-Stadt, aufgeklärt. Solche "Eigentaten" waren die Punkte, an denen die eine Utopie, die der DDR-Staat als ganzes verkörperte, mit den anderen Wünschen der Einzelnen sich kreuzten. Nicht selten waren diese Wünsche jener üblichen Weltsicht verwandt, die heute in den auswechselbaren "City-Centern" Herrschaft gewinnt.

Doch es gab andere Arten persönlicher Utopie, interessantere, nachhaltigere. Die wohl keine Wirtschafts&Mac223;ucht bewirken konnten, aber Ideen gebären, Lebensbilder, Alternativen. Dem utopieverp&Mac223;ichteten Land DDR waren sie oft eine Mühsal, arbeiteten sie doch auf demselben Acker, dem der Lebensentwürfe. Seit Ende Dezember widmet das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt, in der einstigen Kinderkrippe im stalinstädtischen Wohnkomplex II, solchen Idealisten des eigenen Lebens die Ausstellung "Das Kollektiv bin ich – Utopie und Alltag in der DDR". Als repräsentativ kann sie nicht gelten. Schließlich sind drei der fünf vorgestellten Biografien die von erfolgreichen Prominenten, im Grunde alle sind mit Künstlerischem verknüpft. Indem sich darunter mit der Schriftstellerin Brigitte Reimann
und dem Liedermacher Gerhard Gundermann zwei Bewohner des unweit gelegenen Lausitzer Hoyerswerda befinden – gleichfalls in der DDR heftig gewachsen –, erkundet Eisenhüttenstadt auch sich selbst.

Zerborstene Träume

Als junge Autorin und lebenshungrige, gefühlssprühende Zeitgenossin war Reimann in das neue "Hoywoy" gekommen, begeistert von dem Aufbruch, den sie spürte. Vier Jahre später war sie unverhohlen enttäuscht: allein als privates, der Abwechslung entledigtes Wohnen war das neue Leben verstanden worden, ohne Ort und Anlass für Unterhaltung, Zerstreuung, Kultur. In ihrem posthum erschienenen Roman "Franziska Linkerhand" zerbarst ihr Traum, für alle fühlbar, noch einmal.

Es waren dann Leute wie der Baggerführer Gundermann und sein FDJ-Singeclub, die spätere "Brigade Feuerstein", die dieses Vakuum füllten mit einer Kultur, wie sie allein hier entstehen konnte. Gundermann, der die Welt verändern, verbessern wollte und eben darum solange auch Institutionen wie der FDJ und SED, der Armee und Stasi beistand und Widerspruch leistete. Vielen zum Glück ein Querkopf, der nicht besser leben wollte als andere und damit fast verwirklichte, was als Traum die sozialistische Bewegung begründete: der selbständig denkende, souveräne, er&Mac222;ndungs- und gefühlsreiche Arbeiter. Er blieb das auch nach 1990, weil sich am verstörten Grundverhältnis von Mensch und Erde nichts wirklich änderte.

Heldenschlachten schlagen

Sonst scheint die Auswahl der Biogra&Mac222;en eher zufällig, und doch erzählen sie viel. Da ist der Aufstieg der Dresdner Gelegenheitsarbeiterin Ursula Böttcher von der Zirkus-Putzfrau zur berühmten Eisbärendompteuse. Gewiss ist es einseitig, ihre Lust an der Beherrschung großer Tiere und die internationale Präsentation ihrer Bärennummer vor allem als spezi&Mac222;sche Variante des technik- und fortschrittsgläubigen, prahlsüchtigen Sozialismus darzustellen – auch heute gelangt nur an die Fachspitze, wer Gefallen an der Sache selbst &Mac222;ndet. Doch aufschlussreich ist, wie das lose, zirzensische Leben hineinwuchs in die soziale Absicherung der DDR, wie zugleich die furchtlose Frau doch zum zarten Fräulein stilisiert wurde.

Da ist außerdem der erzgebirgische Kältetechniker und Er&Mac222;nder Ernst Süß, den das Amateur&Mac222;lmen begeisterte. Der, obwohl er jahrelang huldigende Chroniken für seinen Betrieb in Scharfenstein drehte, ohne rechte Unterstützung blieb, bis er sich in die Natur zurückzog. Nur der Betrieb hatte nun neben Chor und Klöppelkurs auch einen Filmzirkel. Schließlich der junge FDJ-Sekretär und Parteischullehrer Frank Donszinsky, der "Heldenschlachten schlagen", vierter Klassiker neben Marx, Engels, Lenin werden wollte. Der formale Mitgliedschaften, leere Phrasen nicht ertrug, und dem am Ende ein Ohrring nicht verziehen wurde, mit dem er sein Coming-Out markierte.

Utopie im Vorruhestand

Utopien sind "immer das Gegenteil eines gegebenen Alltags", so beginnt Dietrich Mühlberg seinen Text im bemerkenswerten Ausstellungskatalog, zu dem u.a. ein wunderbar sprachsinniger Beitrag Simone Hains über Gundermann und aus Anlass des 4.11.89 eine gedankenvolle Analyse des "sozialistischen Intellektuellen" von Michael Brie gehören. Als Gegenbild bewegt die Utopie sich von ihrem Ausgangspunkt weg. Und sie ist doch oft darin befangen. Deutlicher ist das kaum zu zeigen als mit den Schülerzeichnungen der siebziger Jahre, die in der Ausstellung gezeigt werden: Als Stadt der Zukunft bilden sie fast immer Varianten des Alexanderplatzes ab.

Was bedeutet da der Nachwendeweg der Protagonisten? Die DDR-Verhältnisse beengten sie, in der Bundesrepublik aber kamen sie ans Ende ihrer persönlichen Utopie. Sie alle hatten an ihren Traum nicht die Elle der neuen Welt gelegt, ihn nicht an das neue Land angemessen: Gundermann starb, als seine Lausitzer Grube schloss, dabei hat er noch so viel zu singen gehabt. Böttcher mit ihren Bären und Süß wurden als überschüssiges Personal entlassen. Beide sitzen berentet zu Hause. Donszinsky hat ein Studium abgebrochen, bekommt Sozialhilfe und sinnt über ungeschriebene Bücher.

Der Leitsatz der Anerkennung, die Richtlinie gegen Ausstoßung war einst wie jetzt: wer und was nutzt uns. Man weiß das in Eisenhüttenstadt. Denn man stand schon mehrfach kurz vor dem Aus. Darum ringt es eindringlich um seinen Nutzen: "Dieser Stahl wurde hier gegossen", verkündet die Stadt trotzig auf einem großen Metallblock nahe dem "City-Center". Es ist ihre begrenzte Utopie von heute: das Stahlwerk über die Zeit zu bringen und vielleicht noch etwas Neues dazu. Eine Hoffnung, dicht am realen Mangel.

Stefan Melle

"Das Kollektiv bin ich", Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Erich- Weinert- Allee 3, Eisenhüttenstadt, Di-Fr 13-18 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr, noch bis zum 26. August

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