Ausgabe 02 - 2001berliner stadtzeitung
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Demokratisieren wir die Zerstörung

Die Architektengruppe 37,6° verteilt Sprenganträge

Der Abriss war immer schon die Zerstörung der Stadt. Demokratisieren wir die Zerstörung. Das ist das Motto von 37,6°, einem freien Zusammenschluss einiger Berliner Architekten - mit leicht erhöhter Temperatur. Frei nach dieser Leitidee verteilen die Fachleute derzeit "Sprenganträge" an die Berliner Bevölkerung. "Der Sprengantrag ist symbolisch gemeint", erklärt Marcus Schröger, Mitglied der Gruppe.

Im Regelfall entscheiden Politiker und Investoren, welche Gebäude dem TNT anheim gegeben werden, welcher Baustil der ungeliebte zu sein hat und nach welchem Zeitgeschmack die Stadt überformt wird. Meist ist das neue Gesicht der Stadt Ergebnis einer Mischung aus Bodenverwertungsinteressen, dem Gestaltungsdrang bestimmter Architekten und einer Machtpolitik, die ihre eigenen Zeichen setzen will. Die Vorstellungen der Bevölkerung fließen allenfalls auf dem Wege sogenannter "Bürgerbeteiligungen" ein. Das heißt in der Regel, dass die Planungen für eine gewisse Dauer in den Stadtplanungsämtern zur Ansicht ausliegen.

"Zunächst einmal sind die Sprengungsgesuche ein Weg, herauszufinden, welche Bauwerke die Bevölkerung für überflüssig hält", sagt Schröger. "Vielleicht kann die Überlegung, was man sprengen will, ein erster Schritt dazu sein, die gebaute Stadt wahrzunehmen - möglicherweise sogar als etwas, an das man eigene Gestaltungsansprüche hat.

Gleichzeitig will die Gruppe 37,6° mit ihrer "destruktiven" Aktion das aktuelle städtebauliche Leitbild kritisieren: sie hält den politischen Entscheidungsträgern und Architekten stilistischen Konventionalismus und Uniformität vor, der einer komplexen, pluralistischen Gesellschaft gänzlich unangemessen sei. Nicht einmal vor einer architektonischen Geschichtskorrektur schrecken die Akteure zurück. 37,6° wendet sich entschieden gegen den voranschreitenden Abriss der Nachkriegsmoderne in Ost und West, die als Träger einer "falschen" Tradition dem Rotstift des Konventionalismus zum Opfer fällt.

Die Sprenganträge sollen schließlich in eine Ausstellung einfließen. Sie soll den Besuchern Gelegenheit bieten, sich über ungeliebte Bauwerke auszutauschen und selbst planerisch tätig zu werden. In Laienplanungswerkstätten sollen eigene städtebauliche Ideen entwickelt werden können - die Gruppe 37,6° ist gespannt auf erste Ergebnisse. Die Ausstellung wird wahrscheinlich im Sommer realisiert.

Tina Veihelmann

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