Ausgabe 02 - 2001berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901

22. Februar bis 21. März

Die Zwangsversteigerung eines "Raphael" lockt am Vormittag des 23. März viele Neugierige in die Pfandkammer in der Neuen Schönhauser Straße. Die wird um 11 Uhr eröffnet, eine halbe Stunde später erfolgt der Zuschlag. Der Privatier Müller aus Wiesbaden kauft das Bild für 6000 Mark. Die Vorgeschichte dieses Bildes, die Madonna sägt darauf den Heiland, ist interessant genug. Es stammt nach den Urkunden aus dem Jahr 1510, ein Luzerner Professor, Louis Nicole, hat es vor Jahren aufgestöbert. Von ihm wollte es der amerikanische Multimillionär Cornelius Vanderbilt für mehr als eine Million Mark erwerben, nur das plötzliche Ableben dieses Nabob vereitelte den Verkauf. Nach dem Tod des Professors sah sich dessen Witwe genötigt, Geld auf das Gemälde zu borgen, so dass sie dem Gläubiger, eben jenem Herrn Müller in Wiesbaden, zuletzt 48000 Mark schuldete und sich zu einer Versteigerung des Pfandobjektes entschloss.

Sieben Bahnhöfe der elektrischen Hochbahn sind zur Zeit im Bau, teils aber auch schon fertiggestellt. Während an der Haltestelle Hallesches Thor gerade das Gerippe zusammengestellt wird, ist der Bahnhof Prinzenstraße bereits vollendet. Die gewaltige Halle, deren Konstruktion den Stadtbahnhöfen gleicht, ist mit blinden Scheiben verglast. Die Bahnsteige liegen jedoch nicht wie bei der Stadtbahn zwischen, sondern seitlich der Gleise, so dass für die auf- und absteigenden Passagiere in beiden Richtungen getrennte Perrons vorhanden sind. Die Zugänge zum Bahnhof Prinzenstraße liegen nicht wie bei den anderen Haltestellen auf der Promenade, sondern seitlich in den Häusern Gitschinerstraße 72 und 31a. Von diesen Gebäuden aus führen Tunnelbauten über die Straße hinweg zur Hochbahn.

Die Haltestellen Kottbuser Thor und Wienerstraße (Görlitzer Bahnhof) sind im Rohbau fertiggestellt. Zu beiden wird der Zugang, ebenso wie bei der Station an der Großbeeren-Brücke, von den Promenadenwegen aus bewirkt. Einen imposanten Anblick bietet der Bahnhof Schlesisches Thor, der, abweichend von den übrigen Stationen, einen massiven Neubau bildet. Auf dem Rondell erhebt sich das stattliche, aus Backsteinen hergestellte Gebäude, das mit Wartehallen und Restaurations-Räumlichkeiten ausgerüstet ist. Der Bahnhof wird im Winter durch Dampfheizung erwärmt. Die Bahnsteige werden nicht von einem Eisengerippe überwölbt, sondern haben Holzdächer erhalten, während die Bahnsteige selbst an dieser Stelle unbedeckt bleiben.

Der nächste Bahnhof Oberbaum-Brücke, gleichzeitig der Ausgangspunkt der Linie, gleicht der Haltestelle Prinzenstraße. Auf dem Terrain der ehemaligen städtischen Wasserwerke in der Warschauer Straße befinden sich große Anlagen, auf welchen die Züge rangieren und die Waggons in Schuppen untergebracht werden. Schon jetzt ist die Bahnstrecke teilweise in Betrieb genommen worden. Durch eine provisorische Kabelleitung, die von der Gitschiner Straße aus nach dem Bahnkörper geleitet ist, wird ein Siemens u. Halskescher Wagen gespeist, der täglich Versuchsfahrten auf dem bereits fertiggestellten Teil vornimmt und gleichzeitig als Arbeitszug dient. Diese Probefahrten finden vorläufig auf der Strecke zwischen dem Halleschen und dem Kottbuser Thor statt.

Der deutsche Seefischereiverein hält im Abgeordnetenhaus seine Generalversammlung ab und lenkt die Aufmerksamkeit auf eine in sozialhygienischer Hinsicht bedeutsame Frage. Unverkennbar sind die Fleischpreise bei uns im allgemeinen so hoch, dass die weniger bemittelten Volksklassen sich den täglichen Genuss von Fleisch entschieden versagen müssen. Wild und Geflügel sind für den ärmeren Mann unerschwinglich, und auch das Fleisch der Haustiere ist teurer als das Fischfleisch. Die Fischzucht, rationell betrieben, liefert gute Nahrung in Fülle. Während Lachs und Forelle als Delikatessen ziemlich kostspielig sind, gibt es wohlschmeckende Sorten wie Schellfisch, Dorsch und Hering überaus billig. Dabei ist das Fischfleisch kaum weniger nahrhaft als z. B. Rind- oder Kalbfleisch. Der Gehalt an Eiweißstoffen ist nicht wesentlich geringer, selbst fette Fische wie z. B. Sprotte und Aal haben genug davon um als nahrhaft zu gelten. Der hohe Fettgehalt beeinträchtigt allerdings die Bekömmlichkeit, der Flussaal muss mit seinen 28 % Fett als schwer verdaulich gelten. Der Schellfisch dagegen, dessen Konsum von Jahr zu Jahr zunimmt, wird durch seinen geringen Fettgehalt so gut wie Rindfleisch ausgenutzt. Der weichliche Geschmack, der den meisten Fischen anhaftet, lässt sich sehr leicht durch den Zusatz von Gewürzen und Salz verdecken. Einen eigenen Wohlgeschmack erhält das Fischfleisch in vielen Fällen durch Räuchern, die fetten Heringe, Aale und Lachse büßen dabei nichts von ihrem Nährwert ein. Zwei Bücklinge entsprechen nahezu einem halben Pfund Leberwurst, und doch ist ihr Preis nur der halbe. Mit vollem Recht regt daher der deutsche Seefischereiverein die Verwendung von Räucherfischen in Gefängnissen und Militärmenagen an.

Ostergrüße mit der Feldpost nach China zu senden ist am 1. März letztmalig Gelegenheit. Diese Feldpost trifft in Schanghai am 3. April ein. Da Ostersonntag diesmal auf den 7. April fällt, kann die Feldpost, falls eine günstige Schiffsverbindung mit Taku vorliegt, Tientsin oder Peking noch bis zum Osterfest erreichen.

Falko Hennig

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