Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Exzesse des Unvermögens

„Acme Novelty Library", Chris Wares epochales Comicwerk

Jimmy Corrigan lebt in der Hölle. Ein kleines Haus am Rande von Chicago, ein Job als Büroangestellter unterster Kategorie in der City. Ein ganz gewöhnliches Dasein fristet der Held von Chris Wares Comic-Epos „Jimmy Corrigan, the Smartest Kid on Earth". Der gnadenlose Optimismus der amerikanischen Werbesprache, die ihn umbrandet, die Machosprüche seines Kollegen zum richtigen Umgang mit Frauen jedoch sind bloßer Hohn. Jimmy Corrigans Hölle ist Einsamkeit. Die Beziehungen zu seinen Mitmenschen beschränken sich auf das Allernötigste, regelmäßigen Kontakt hält er nur zur Mutter, die ihn am Telefon tyrannisiert. Den Vater hat er nie kennengelernt. Jimmy ist Mitte dreissig und das größte „Abenteuer" seines bisherigen Lebens bahnt sich an, als sich überraschend sein Vater meldet...

Die nackte Story jedoch sagt noch wenig über den tatsächlichen Charakter des Werkes, mit dem der Chicagoer zum innovativsten Comickünstler der neunziger Jahre wurde. Er erzählt auf noch nie gesehene Weise von der unendlichen Jämmerlichkeit der nur von Demütigungen und Peinlichkeiten unterbrochenen Ödnis des Lebens. Es ist die minutiöse „Suche nach der Verlorenen Zeit", die man lieber auf immer vergessen würde.

Ware berichtet von der Kehrseite des „amerikanischen Traums"­ bei ihm nicht Sex, Drogen und Korruption als Gegenbild zum calvinistisch-tüchtigen Pioniergeist, sondern die Beziehungs- und Antriebslosigkeit seines Helden. Kontrastiert wird das mit den lächerlich überzogenen Versprechungen einer schäbigen Konsumententraumwelt. Dies ist die Welt der „Acme Novelty Library", so der Titel der Comicheftreihe. Extrem unterschiedliche Formate und die liebevolle Aufmachung machen die Hefte bereits äußerlich unvergleichlich. Die bewusst nostalgisierende Gestaltung geht einher mit schwülstigen Texten des Herausgebers nebst erfundenen Leserbriefen und Anzeigen, die für Erfolg durch Brutalität, Drogenhandel oder absurde religiöse Kulte werben. Purer Zynismus herrscht auch in den unzähligen Nebenstrips und Bastelanleitungen für Peep Shows oder abgestürzte Raketen. Einzigartiger noch ist Wares Erzählweise, bei der Wirklichkeit, Traum und Wunschvorstellungen nahtlos inneinander übergehen. Jimmy Corrigan sieht sich mal als schwerfälligen Roboter, der den Launen seiner Eltern hilflos ausgesetzt ist, mal als glücklichen Familienvater, der seinen Sohn über das Wesen der Liebe aufklärt, bis Superman auftaucht und alles verwüstet. Superman ist Jimmys eigentliche Vaterfigur, von Ware jedoch als schmerbäuchiger Fiesling charakterisiert. Eine spezielle Ware-Erfindung sind immer wiederkehrende Diagramme aus winzigen, durch Pfeile verbundenen Zeichnungen, die die Familiengeschichten in Kurzform erzählen. Der Facettenreichtum dieses hochkomplexen und dennoch in perfekten Erzählfluss gebrachten Werkes ist hiermit allerdings nur annähernd beschrieben.

Kai Pfeiffer

„Acme Novelty Library" von Chris Ware, bislang 14 Hefte bei Fantagraphics (US-Import)

„Jimmy Corrigan"-Gesamtausgabe, 380 Seiten, Leinen, Pantheon Books (US-Import) erhältlich im Comicfachgeschäft „Grober Unfug", Weinmeisterstraße.

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