Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung scheinschlag

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Diese kleine Borsigstraße da unten

Neue Texte von Elke Erb

Der Titel des Buches führt absichtsvoll in die Irre; denn was ist das für ein Sachverstand, der die Frage aufwirft: „Schneide ich etwa Feenfleisch aus/und lege es auf die Teller?", der bemerkt, „daß der Steiß,/während ich im Bett sitze und lese (...) Wurzeln zu schlagen trachtet"? Die Rechtschreibkontrolle meines Schreibprogramms moniert das „Feenfleisch", schlägt als Alternative Feten- oder Femenfleisch vor; auch nicht schlecht. Es handelt sich also um „Poesie". Der Literaturkritiker und Essayist Franz Schuh bekennt in seinem Buch Schreibkräfte: „Die Sehnsucht nach dem Nicht-Begrifflichen, die als das Poetische ausgestellt wird, teile ich nicht." Diese Art von Sehnsucht hat etwas Regressives, ist ein Plädoyer für den „Bauch". Elke Erb wird eine solche Sehnsucht nach dem Poetischen gar nicht kennen; sie ist denkend und schreibend immer schon verstrickt in eine poetisch-anarchische Weltsicht. Sie treibt ihr Spiel aber so hemmungslos weit, bis in subjektivistische, gar privatsprachliche Gefilde, dass keine Gemütlichkeit aufkommen kann in dieser Poesie, dass alles beherrscht wird von einer großen Offenheit, auch Unberechenbarkeit.

Mit Sachverstand legt Elke Erb nach Mensch sein, nicht nun ihr zweites Buch bei Urs Engeler in Basel vor, Gedichte und kurze Prosastücke aus den Jahren 1996 ­ 99. Keiner der Texte umfasst mehr als sechs Seiten, die Grenze zwischen Lyrik und Prosa verschwimmt. Trug Mensch sein, nicht den Untertitel „Gedichte und andere Tagebuchnotizen", so ist das tagebuchartig-skizzenhafte auch ein Kennzeichen des neuen Buches von Elke Erb. Alle Texte sind datiert, nehmen ihren Ausgang meist von einem punktuellen Ereignis, einem Gedankensplitter, sehr oft von einem visuellen Eindruck; nicht umsonst ist ein Text „Trinkt, oh Augen, was die Wimper hält" überschrieben. „Ich höre nicht auf mich zu wundern", schreibt Elke Erb. Da geht es z. B. um ein „Bild, hervorgerufen vom Anblick im Gras klumpenden Schnees", da wird das Tragen eines Eimers über den Hof zu einer befremdlichen Szenerie verdichtet: „und im Rücken geistert irgendein Kuhstall", der „Hilferuf" eines aus dem Nest gestürzten Vogels wird zur Chiffre für Katastrophen, weckt den „Hilfstrieb/in einem lesenden und schreibenden Menschen". Häufig evozieren diese Naturbilder Erinnerungen an die Kindheit in der Eifel, wo die heute in Berlin lebende Elke Erb 1938 geboren wurde. „Er hat auf Blechbüchsen/geschossen im Urlaub. Warum?", lesen wir etwa im Gedicht „Weihnachtsurlaub": „Er hat uns drei kleinen Töchtern gezeigt,/wie das Gewehr funktioniert." Mit wenigen Strichen, einer Skizze, in der von „Pfählen", „Maschendraht" und „Waldhorizont" die Rede ist, wird ein weiter Assoziationsraum geöffnet.

Elke Erb verschreibt sich voll und ganz dem anarchischen Spiel der Assoziationen, nie sind die Bahnen ihrer Texte formal oder inhaltlich vorhersehbar. „Diese kleine Borsigstraße da unten" evoziert beispielsweise das Bild von „düsterer Stickluft", von einem Arbeiter, der „etwas Schweres" rollt. In Wirklichkeit freilich ist die Luft dort frisch, „ein Blütenduft tanzte an"; dennoch: „Auf meinen Beinen aber zugleich schritt ein Arbeiter, als die Schlote der Industrialisierung rauchten (...)". Man kommt aus dem Zitieren nicht mehr heraus, will man einen Eindruck dieser Texte vermitteln, die in ihrem radikalen Subjektivismus etwas Inkommensurables haben. Wie sagte Elke Erb einmal in der literaturWERKstatt, nachdem sie ein Gedicht vorgelesen hatte? „Das müssen Sie jetzt so hinnehmen."

Florian Neuner

Elke Erb: Sachverstand. Urs Engeler Edition, Basel 2000. 27 DM

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