Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung scheinschlag

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Seit 35 Jahren täglich Fisch

„...Rollmöpse in Remoulade, solange wir verheiratet sind"

Die Kreuzberger Markthalle zwischen Eisenbahnstraße und Manteuffelstraße sieht noch fast so aus wie vor hundert Jahren. Sie ist eine der fünf historischen Berliner Markthallen, die heute noch bestehen ­ im vorigen Jahrhundert baute man sie, um die schwer kontrollierbaren Wochenmärkte mit ihren fliegenden Händlern zurückzudrängen. Das Ehepaar Henschel gehört hier mit einem Fischstand zu den alteingesessenen Händlern. Seit 1965 erleben sie Zeitgeschichte aus der Ladentischperspektive.

Dieter Henschel: Wie alles angefangen hat? Mit acht Jahren habe ich zum ersten Mal geholfen, Heringe zu filettieren. Meine Eltern hatten ein Fischgeschäft in der Wartestraße in Neukölln. Doch weil der Laden klein und Neukölln ja eine Arbeiter- oder Armeleutegegend war, übernahmen sie später diesen Laden hier. Ich lernte damals Turm- und Brückenbau. Weil wir im Geschäft aber Probleme mit Verkaufskräften hatten, musste ich öfter mal mit ran ­ wie Familienbetriebe eben so sind. An Weihnachten zum Beispiel haben wir alle Bratheringe gemacht, bis nachts elf, zwölf. Mit 20 habe ich den Laden übernommen. Zwei Jahre später stieg meine Frau mit ein.

Barbara Henschel: Aus reiner Liebe. (lacht)

Er: Damals hatten wir noch einen Verkaufstresen, der gemauert und gefließt war. Anstatt einer Heizung gab es riesige Bulleröfen. Bald kauften wir unsere erste Kühlung und fingen mit Frischfisch an. Zur Freude aller anderen Kollegen. Gegenüber zum Beispiel war ein Stand mit Miederwaren, wo an Ort und Stelle den dicken Matronen ihre Büstenhalter angepasst wurden.

Sie: Das Gesamtbild der Halle hat sich kaum verändert. Die Stände sahen etwas anders aus. Zum Beispiel hatten sie noch Schiebegitter, wie sie um die Jahrhundertwende üblich waren. Und große, runde Metallschilder mit den Standnummern.

Er: An unserem Stand arbeiten wir zum Teil heute noch genau wie damals. Zum Beispiel filletiere ich immer noch selbst ­ Heringe oder Lachse. Ich besorge lieber ganze Fische, weil sie billiger und frischer sind, und verarbeite sie dann weiter. Manchmal ist auch ein ganzer Hecht oder Thunfisch dabei. Kaisers dagegen kauft so eine ganze Kiste mit fertigen Haisteaks.

Sie: Ein Vorteil ist, dass wir unsere Kunden kennen. Wir können die Leute ansprechen,was sie brauchen und auf Anfrage auch mal etwas Ausgefallenes besorgen. Früher kannten wir die Kundschaft sogar mit Namen, denn damals gab es in der Halle für regelmäßige Besucher persönliche Rabattmarkenbücher. Heute kennen wir maximal noch die Gesichter.

Er: Wenn es Prominente sind, erkennt man sie: Heiner Müller zum Beispiel war auch unser Kunde, bevor er gestorben ist. Schade um ihn. Er war ein sehr netter Kerl, hat immer Rogen gekauft. Manchmal hat man ein bisschen Zeit, sich mit den Leuten zu unterhalten.

Am Sonnabend zum Beispiel. Meist sind es Männer, die sonnabends einkaufen, weil die Frauen das ja nicht mehr so machen wollen. Mir macht es großen Spaß, mich mit diesen Männern zu unterhalten: Wie machen wir diesen Fisch, oder jenen. Und dann werden die Frauen zu Hause von den Männern verwöhnt.

Sie: Früher kauften Männer selten ein, die kamen nur mal einen Rollmops holen, wenn Sie breit waren.

Er: Die Stammkunden früher kauften überhaupt anders ein.

Sie: Sie holten mehr ein, dafür aber einfachere Sachen. Zum Beispiel einen Laib Brot und ein Pfund Heringsdipp, um die Familie satt zu kriegen. Wir führten früher auch noch tonnenweise Sauerkohl.

Er: Als wir anfingen, hatten wir noch wesentlich mehr Arbeit. Ganze Babybadewannen Matjessalat mussten wir vorbereiten. Inzwischen ist das sehr viel weniger geworden. Früher war die Struktur in Kreuzberg noch eine ganz andere: Viele Leute wohnten noch hier, die in die Halle einkaufen kamen. Später wurde ein großer Teil der Bewohner wegsaniert.

Sie: Früher wohnten ganze Familien in einem Haus: Oma, Opa, Tante. Die Leute kannten sich. Sie trafen sich hier in der Halle und quatschten miteinander. Die Frauen holten freitags ihre Männer von der Arbeit ab, damit sie ihr Geld nicht versoffen, und dann wurde anständig eingekauft.

Durch die Sanierung wurden die Familien auseinandergerissen. Die Alten zogen in Seniorenwohnheime und ihre Kinder besuchen sie nur noch ein zwei mal im Jahr. Dann kamen die Hausbesetzer. Das war auch noch ein gutes Auskommen, aber ein anderer Kundenkreis zog sich zurück. Und irgendwann sind wir dann angekommen bei Singlehaushalten, Leuten die vorübergehend hier wohnen. Die meisten ziehen weg, sobald sie Kinder kriegen, spätestens aber wenn die Kinder zur Schule kommen. Und von denen, die bleiben, haben viele wenig Geld und ernähren sich von Aldi.

Er: Die Kundschaft, die wir noch von vor dreißig Jahren kennen, sind meist Witwen. Das bisschen, was die brauchen, kaufen sie bei Aldi.

Sie: Was auch sehr viel ausmacht ist, dass die Leute ihre Lebensgewohnheiten geändert haben und die Familien kleiner geworden sind. Die großen Familien brauchten andere Waren. Zum Beispiel Milch wegen der Kinder. Früher gab es in der Halle noch ein Lebensmittelgeschäft, das lose Milch und Butter verkaufte. Die Frauen waren noch viel zu Hause und kochten selbst. Heute sind viele Frauen berufstätig. Die Leute arbeiten 38 Stunden und werden so ausgepresst, dass sie abends ihre Ruhe brauchen, was verständlich ist. Dann wird zum Abendbrot eben nur noch eine Kleinigkeit gegessen, oder man geht essen. Dadurch haben sich die Einkaufsgewohnheiten der Leute geändert.

Er: Was sich noch mit der Zeit geändert hat ist, dass immer mehr türkische Kollegen in die Halle gekommen sind. Als wir anfingen, war noch kein einziges türkisches Geschäft hier. Jetzt sind es fast 70 Prozent.

Sie: Die vielen türkischen Zuwanderer eröffneten Läden mit türkische Spezialitäten und lebten vom Heimweh der Leute. Aber wir kommen sehr gut miteinander aus.

Er: Sie haben auch ein anderes Angebot.

Sie: Da gibt es eigentlich gar keine Probleme. Unsere Probleme haben wirklich mehr damit zu tun, dass die Leute ihre Lebensgewohnheiten geändert haben.

Er: Deprimierend ist, dass man gegen die Großen nicht bestehen kann, dass man machen kann, was man will und immer Schwierigkeiten haben wird, sich zu behaupten. Überall eröffnen diese riesen Einkaufscenter ­ Karl Marxstraße, Cuvrycenter, Treptowcenter und so weiter.

Er: Aber wir haben viel erlebt, in all der Zeit, wir hätten Tagebuch führen sollen ...

Sie: Der Kollege gegenüber, der hatte alles, verbeulte Töpfe, Teller, Tassen, Blumenerde. Sein Stand war viel zu klein für all seinen Krempel. Die Hälfte seiner Waren lag davor herum.

Er: Er hat nie Finanzamt oder Miete bezahlt. Irgendwann kam das Finanzamt und wollte seine Bücher sehen. „Bücher?" fragte er. „Ihre Rechnungen und Quittungen, die müssen Sie doch irgendwo abgeheftet haben." „Da hinten steht ein Wäschekorb", sagte er, „da ist alles drin." Sieht der vom Finanzamt den Korb - voll mit irgendwelchen Zetteln - und sagt: „Ne, das müssen sie sortieren." „Sortieren?" gibt der zurück, „wollen sie meine Bücher sehen oder ich?"

Sie: Irgendwann kam die Kündung. Und weil er haushoch Ware hatte, wusste er sich nicht zu helfen und ließ zwei Drittel stehen. Die ganze türkische Gesellschaft und alle anderen haben sich aus seinen Hinterlassenschaften eine halbe neue Wohnungseinrichtung zusammengesucht: Töpfe und Leifheit ­ man kann das nicht beschreiben - 1972 mag das gewesen sein. Später arbeitete er bei der Reichsbahn, damit man sein Gehalt nicht pfänden konnte. Wohnte hier und arbeitete in der DDR. Irgendwann hat er sich aufgehängt.

Er: Und einer war hier, der hatte keine Beine, vom Krieg. Auf einer Seite fehlte das ganze Bein, auf der anderen der Fuß. Aber der hatte Frauen - wirklich schicke Frauen. Und sogar tanzen konnte er. Früher gab es regelmäßig Markthallenfeste. Da legte der ohne Beine einen flotten Walzer hin. Das konnte er, hatte ganz tolle Prothesen, die immer quietschten. Handtaschen führte er.

Sie: Und einer ­ er muss mal bei der Wehrmacht gewesen sein, denn er marschierte immer im Stechschritt einher ­ der handelte auch mit Fisch. Eines abends dachte er wohl wir hätten schon Feierabend und kam an unserem Stand vorbeigestakst, Richtung Klo ­ in Schlüppern. Als er auf dem Pott saß, traute er sich eine halbe Stunde lang nicht mehr heraus ­ weil wir vor der Tür standen und lachten.

Er: Wir waren nicht zimperlich, war ja die Konkurenz. Wenig später musste er aufgeben. Überhaupt mussten alle anderen Fischhändler hier irgendwann aufgeben. Das ist zwar hart, aber Konkurenz muss sein.

Sie: Das waren aber auch Leute, die das nicht von klein auf gemacht haben. Manche meinen, man könnte mit Fischen handeln, wie mit Colaflaschen. Aber Fische brauchen eine sehr spezielle Behandlung.

Er: Zeitaufwand und Verdienst stehen eigentlich in keinem Verhältnis.

Sie: Aber im Großen und Ganzen betreiben wir unseren Stand immernoch gerne. Das muss auch so sein ­ was wir hier machen, kann man nur ganz machen. Der Geruch darf einem nichts ausmachen, und man darf nicht unglücklich sein, wenn man abends nur noch in die Badewanne geht. Und wir essen immernoch gerne Fisch. Sogar Sonntags zum Frühstück ­ Rollmöpse in Remoulade, solange wir verheiratet sind.

Tina Veihelmann

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