Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Kohortenkeulung?

1990 sei er nach Berlin gekommen, mit einem Koffer voll Geld. 600tausend Mark, die er als Bauunternehmer im Allgäu gespart habe. Schon Willis Urgroßvater sei nach Amerika gegangen, um die Jahrhundertwende. Sein Großvater sei weggegangen. Sein Vater. Alle hätten sie irgendwann ihre Familien sitzen lassen und ihr Glück in der Ferne gesucht, in New York oder in Ravensburg.

Willi wollte den Osten bebauen. Er stellte Maurer ein, Stukkateure, Gerüstbauer. Er zog Aufträge an Land. Er stellte noch mehr Leute ein. Er überschätzte die Arbeitsbegeisterung des Berliner Bauarbeiters. Wofür er im Allgäu einen Betonbauer brauchte, dafür brauchte er hier zwei. Bald war die Hälfte der Belegschaft krankgeschrieben. Bei voller Lohnfortzahlung. Willi meldete Konkurs an.

Sozialhilfe kam nicht in Frage. „Das ist nichts für uns", sagte er und schaute von seinem Weizenbier auf. „Das ist doch nichts für uns. Das können wir gar nicht", sagte er, und ich nickte. „Daheimsitzen und Löcher in die Luft gucken. Selbst wenn wir es wollen täten."

Willi fuhr mit seinem Daimler nach Immenstadt und trieb bei seinem Kumpel, dem Metzger, alte Schulden ein. 10tausend Mark, zahlbar zur Hälfte in bar, zur Hälfte in Leberkäse-Rohmasse. Zurück in Berlin brachte er jedem seiner alten Angestellten einen Teil des ausstehenden Lohnes und ein Kilo rohen Leberkäse, backfertig in der Alu-Form.

Auch bei den Bauherren brachte er sich so in Erinnerung. Frisch gebackener Leberkäse war eine Delikatesse. Die Bauherren bestellten bei Willi Nachschub, und auch seine Maurer und Stuckateure von früher. „Schaffen tun sie nicht gern", sagte Willi. „Aber essen." Bald fuhr er einmal in der Woche ins Allgäu, um rohen Leberkäse zu holen. Er dachte sich Rezepte aus, die sein alter Kumpel, der Metzger, wahr machte: Paprika-Leberkäse, mit Paprika-Stückchen in der Rohmasse. Leberkäse im Brotteig. Sauerkraut-Leberkäse. Leberkäse Hawaii. Willis Telefonnummer wurde weitergereicht wie eine geheime Medizin. Sammelbestellungen trafen ein. Willi belieferte die komplette Herrenmannschaft von Hertha Zehlendorf. Die Psychiatrische Abteilung der Charité. Die Urologie. Die halbe Berliner Tanzszene.

Vielleicht weil der letzte Schritt, das Backen, immer zuhause passierte, stand Willis Leberkäse im Ruf, besonders ökologisch zu sein oder biologisch oder anderweitig irgendwie gesund, sodass auch immer mehr Angehörige der grünen Mittelschicht zu Willis Kunden zählten. Er dankte es ihnen, indem er vor der Auslieferung ein paar Sonnenblumenkerne auf die rosa Masse streute, was den Kilopreis um drei Mark erhöhte.

Willis großer Coup war die Erfindung des Kalbsleberkäse. Der Türke vom Dönerstand hatte ihn darauf gebracht. Willi sollte bei Allah und bei seinem eigenen Gott, den er zu diesem Zweck vortäuschte, schwören, dass die Leberkäsemasse kein Schweinefleisch enthielt. Auch wenn sich Willi anfangs „nicht ganz hundertprozentig sicher" war, dass das wirklich stimmte, so schwor er doch, schwitzend und etwas im Zweifel darüber, ob Allah es wohl respektierte, dass er, Willi, für ihn exterritoriales Gebiet war.

Willi stellte eine Buchhalterin ein und einen Fahrer. Er entwickelte gerade einen Lasagne-Leberkäse mit Schichten aus Nudelblättern und Gemüsesoße darin, als bekannt wurde, dass im Allgäu ein Rind an BSE erkrankt war. Willis Telefon klingelte nicht mehr.

„Das Bier im Osten früher", sagte ich, um ihn etwas aufzumuntern. „Weißt Du, was da drin war?"

Willi sagte: „Nein. Was?"

„Rindergalle", sagte ich. „Um es bitter zu machen. Statt Hopfen."

Willi betrachtete sein Weizenbier, sein fünftes inzwischen. Er drehte das Glas und untersuchte es schweigend von allen Seiten. Er schaute auf und sagte: „Na, die Zeiten sind ja gottseidank vorbei ­ oder?"

Bov Bjerg

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 01 - 2001