Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Im Klassenzimmer

Katalogwissen und Einfühlung: Hans Eichhorn auf Wolssuche

Geboren 1913 in Berlin, gestorben 1951 in Paris, der Wahlheimat. Das sind die äußeren Lebensdaten des Alfred Otto Wolfgang Schulze, genannt Wols, längst ein kanonisierter Klassiker der Moderne. Dazwischen liegt ein bewegtes Leben, liegen der 2. Weltkrieg, Lageraufenthalte, Alkoholismus, die Pariser Avantgarde-Szene der dreißiger und vierziger Jahre. „Man muss seine Texte, seine Zitate und seine Zeichnungen als Ganzes im Kopf bewegen", so Henri-Pierre Roché über den deutschen Künstler, „das ergibt dann Wols." Hans Eichhorn hat dieses Zitat seinem neuen Buch Circus Wols vorangestellt und er hat es ernst genommen. Der 1956 geborene Schriftsteller, der nicht nur selbst als bildender Künstler tätig ist, sondern auch als Berufsfischer am oberösterreichischen Attersee lebt, hat einen faszinierenden Text jenseits kunsthistorischer Diskurse vorgelegt, der aber auch sehr viel mehr ist als bloß persönliche Annäherung an einen geschätzten Künstler. In jedem Augenblick ist Eichhorn sich der Problematik des „Katalogwissens" bewusst, auf das er sich gleichwohl stützen muss. „Disziplin, Ordnung, Systematik, Wissenschaft, dem steht entgegen: Wols", heißt es an einer Stelle.

Eichhorn hat sein Wols-Buch in Form eines Tagebuchs geschrieben, entlang der Lebenschronologie des Künstlers ­ immer wieder neue Anläufe, neue „Wolskeimzellen", neue „Wolswege", Misstrauen gegen die Biografie, „wie sie geschrieben steht." In all das fließt zudem der Alltag des Schreibenden ein, dessen Wahrnehmung zunehmend geprägt ist durch Wols' Kunst. Geschult etwa wird der Blick auf das unscheinbare Detail: „Überall liegen die Schätze herum." Auch in einer österreichischen Kleinstadt. Außerdem zitiert Eichhorn immer wieder aus dem Tagebuch seiner achtjährigen Tochter: „In Rs Tagebuch blättern, um wegzukommen von den psychologischen Schemata (...) Die Perspektive des Kindes, um den nötigen Freiraum zu öffnen." In dem kindlichen Tagebuch lesen wir mit Eichhorn z. B. ganz lapidar: „Heute ist Donnerstag. Ich ging zur Schule Da hatten wir Deudsch da machten wir etwas im Schprachbuch." Auch die ganze Unternehmung dieser „Wolssuche" ist ein Zur-Schule-Gehen, ist der Versuch, offen zu bleiben, sehen zu lernen ohne vorgefertigte Interpretationen. So kann es nach 260 Seiten und eineinhalb Jahren Wols-Tagebuch schließlich heißen: „Circus Wols kann immer und jederzeit beginnen: Sehen heißt, die Augen schließen. Augen auf! Und schon geht es los."

Florian Neuner

Hans Eichhorn: Circus Wols. Aufnahme und Projektion. Residenz Verlag, Salzburg 2000. 40,80 DM

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  Ausgabe 12 - 2000