Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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Biberach Berlin 1990

von Falko Hennig

1990. Das Jahr der acht Umzüge. Ich war in Oslo, als es begann, wohnte aber in Köln, und kurz darauf begann mein Fotosatzkurs in Biberach an der Riss. Auf einem einzelnen Bauernhof nahe Saulgau bezog ich Quartier wie schon viele Hauchler-Schüler und Weinreisende vorher. Später bekam ich ein Zimmer in Biberach selbst. Der Name der Straße - Klauflügelweg - klang wie Fachwerkhäuser, Glockenschläge und Käuzchenrufe vom Galgenberg. Aber was ich dort fand, eine Viertelstunde vom Hauchlerstudio entfernt, war ein Plattenbau wie in Marzahn. Die Schule war wohl seinerzeit recht modern. Laut ratternde Satzbelichtungsmaschinen standen da, an denen Schriftarten und Zeilenbreiten zuvor in unverständlichen Zahlencodes eingeben werden mussten, die auf grünen Bildschirmen aufleuchteten. Ich erwarb mein erstes Auto, einen orangenen VW-Käfer für 600 Mark. Als der Kurs im Mai zu Ende ging, zog ich zurück nach Berlin.

„Ich war da, wo warst Du?"

Zunächst lebte ich ganz ohne Zimmer. Meine Sachen lagen im Auto oder bei wohlmeinenden Leuten. Meine Versuche, einen Job als Fotosetzer zu finden, blieben halbherzig. Wenigstens aber brauchte ich eine Meldeadresse in Westberlin, um Arbeitslosengeld zu bekommen. Am Paul-Lincke-Ufer, direkt neben der Oktober-Druckerei, bewarb ich mich bei einer Setzerei, und einer der Mitarbeiter ließ sich auf dieses Halbillegale ein und unterschrieb das Meldeformular. Von da an rief ich ihn regelmäßig an und holte mir meine Mahnungen, Vorladungen und Bewilligungsbescheide bei ihm ab.

Einmal lud er mich zu einer Party in seinem Neuköllner Loft. Abenteuerlich aussehende Männer in Tierkostümen waren dort, die schwarze Afghanen oder grüne Libanesen rauchten. Als ich schon ging, hörte ich jemanden singen. Im Treppenhaus übte ein junger Opernsänger. Als er von meinem Wohnungsproblem hörte, bot er mir seine an. So erhielt ich ein Berliner Zimmer in der Friedrichshainer Matternstraße, endlich eigene vier Wände.

1990 verbrachte man noch viel Zeit damit, einander erfolglos zu besuchen. Fast niemand hatte Telefon. Man fuhr durch die ganze Stadt um herauszufinden, dass niemand zu Hause war. Dann machte man einen Zettel an die Tür, auf dem stand: „Ich war hier, wo warst Du?" War kein Zettel zur Hand, wurde auf die Wände oder die Tür selbst geschrieben, wo die Nachrichten einen eigentümlichen Informationsteppich bildeten. Überall klebten „Mmmh...frische Bohnen!"-Aufkleber von Tchibo. An einem Trabbi zählte ich nicht weniger als elf Stück.

In meinen VW-Käfer fuhr eine Straßenbahn, und wegen der so entstandenen Verformungen entstempelte die Polizei den Wagen in Hamburg. Ich kaufte einen Opel Manta in Heide und fuhr mit ihm nach Norwegen. Unterwegs gingen der Kühler, die Räder, der Scheibenwischer, die Tür- und Kofferraumschlösser, einfach alles kaputt. Norwegen gefiel mir diesmal noch weniger.
Nur Fjörde, Berge, stille Bergtümpel, und an jedem saß ein Angler auf einem Campingstuhl. Im Autoradio kam nur norwegische Volksmusik, das Kassettenteil lief zu schnell und leierte, das war noch spukiger und nach wenigen Minuten unerträglich.

Ein wunderbar weinroter Manta

Als ich in Berlin ausstieg und in meine Wohnung in der Matternstraße stieg, fand ich die Tür aufgebrochen. Jemand hatte ein neues Schloss eingebaut, mein Schlüssel passte nicht mehr. Ich brach die Tür wiederum auf, wenigstens meine Sachen waren noch da. In den nächsten Tagen erkundigte ich mich bei der KWV und behauptete, den Schlüssel vom Inhaber zum Blumengießen erhalten zu haben. Doch stellte sich heraus, dass dessen Mietvertrag längst ungültig war und die Wohnung als leerstehend zählte. Ich saß erneut auf der Straße.

1990 am Jahresende wohnte ich schließlich in einem besetzten Haus. Ich studierte Humanontogenese und Wissenschaftsphilosophie und hatte diesen wunderbaren weinroten Opel Manta. In einem Stau macht es „Klick!" Es war ein feines Geräusch, eher zu spüren als zu hören, leicht metallisch, fast einschmeichelnd. Ich hatte dieses Geräusch noch nie gehört, trotzdem verstand ich sofort: Das Lenkradschloss war eingerastet. Seitdem ich den Zündschlüssel verbummelt hatte, schloss ich es immer kurz. Es ließ sich nichts mehr lenken, so gewaltig ich das Lenkrad hin- und herriss. Ich schaltete den Warnblinker ein und fragte Fußgänger:

„Entschuldigen Sie, können Sie mir helfen, das Auto an den Straßenrand zu hieven?" Sie standen mir bei, der Manta parkte nun ordentlich am Straßenrand. Einige Tage später kehrte ich mit Werkzeug zurück. Die Windschutzscheibe war eingeschlagen, die Vordersitze lagen voller Sicherheitsglaskristalle, das Lenkrad war gestohlen. Ich schraubte die Nummernschilder ab, fuhr damit zur Kraftfahrzeugmeldestelle und meldete den Opel Manta ab.

Eine Woche später kam ich noch einmal vorbei. An dem Auto fehlten nun sämtliche Räder, alle Scheiben waren zerschlagen. Unter der anklagend geöffneten Motorhaube sah es aus, als hätten mechanische Aasgeier mit ihren ölgierigen Köpfen in den Innereien des Manta herumgewühlt. Eine Woche später war das weinrote Gefährt ganz verschwunden, nur eine dunkle Stelle auf dem Asphalt war zu sehen, sie mochte von jedem beliebigen Auto stammen.

Zehn Jahre sind wir weiter. Seitdem kreist das Lebensrad schneller und schneller. Die Wehwehchen nehmen zu. Aber noch humpeln wir mit.

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