Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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Reporter des Satans

Von Alexander Osang

Seit einem Jahr lebe ich in New York. Manchmal fragt mich jemand, warum ich Berlin verlassen habe, gerade jetzt, wo es so spannend wird. Es gibt verschiedene Antworten. Hier ist eine.

Vor anderthalb Jahren blieb mein Auto in einer Hellersdorfer Straße stehen. Es war an einem verregneten Sonnabendvormittag im April. Ich wollte für meine Geburtstagsparty Getränke einkaufen und beschloss, nach Hellersdorf zu fahren, weil es dort billig ist. Das Auto blieb einfach stehen, obwohl es mich sonst nie hängengelassen hatte. Hinter mir hupte es sofort, ich stieg aus und schob das Auto um die Straßenecke, wo es weniger störte. Es regnete stark, und ich erkannte auf der anderen Straßenseite einen fünfstöckigen Neubaublock, auf dem vier komische bunte Kegel standen. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich sprang ins Auto zurück, schloss die Tür, drückte die Zentralverriegelung herunter und wartete. Ich kannte das Haus mit den Kegeln, denn ich hatte ein paar Monate zuvor über seine Bewohner geschrieben.

Für einen Bildband von Hellersdorf hatte ich die Hausgemeinschaft porträtiert. Zehn Parteien, wie man so sagt. Ganz unten wohnte eine alleinstehende Aussiedlerin aus Kirgisien, der die Einzimmerwohnung eines Mannes zugewiesen wurde, der sich hier zu Tode getrunken hatte. Aber das wusste sie nicht. Ganz oben wohnte eine junge Frau mit Kind in zwei bunten Zimmern. In einem hing ein großes Porträt von Marilyn Monroe. „Marilyn hat auch immer nur Druck gekriegt", sagte die Frau aus dem fünften Stock. Wenn es still war, hörte man, wie sie ihre Tochter anschrie, die sie über alles liebte. Ihr Nachbar war ein Fernfahrer, der nie da war. Im zweiten Stock gab es ein mittelaltes Paar, das betrunken war, wenn ich klingelte, und nur durch den Türspalt mit mir redete. Es gab eine Rentnerin, die eigentlich bei ihrer Tochter in Kaiserslautern wohnte, seit ihr Mann gestorben war. Sie hatte ihm allerdings auf dem Totenbett versprochen, die Wohnung zu behalten, die er ihr eingerichtet hatte.

Im Erdgeschoss wohnte eine Familie mit zwei Kindern, die sich am Wochenende Häuser in Brandenburg ansah, die sie sich nicht leisten konnte. Sie rüsteten ihre kleine Wohnung immer mehr auf, um das zu vergessen. Im vierten Stock lebte ein junger Mann, der an den Wochenenden laute Parties feierte, aber der wollte eigentlich raus. Auf der anderen Seite des Flurs hockte eine ehemalige Lehrerin in einem dunklen, kalten Zimmer und dachte an die herrschaftlichen Wohnungen, die sie zu DDR-Zeiten in Dresden und Halle besessen hatte. Unter ihr war gerade ein junges Paar eingezogen. Beide waren arbeitslos und kannten niemanden im Haus. Die Frau sammelte Puppen und Plüschtiere, in ihrem Wohnzimmer hing eine Reichskriegsflagge. Ich redete mit den Mietern über ihre Träume und Pläne. Sie erzählten mir, was sie von ihren Nachbarn hielten, warum sie nach Hellersdorf gekommen waren und wie sich das Haus, das 1989 gebaut worden war, in den letzten neun Jahren verändert hatte. Zum Schluss begleitete ich ein Ehepaar beim Umzug in eine hübsche Doppelhaushälfte am Stadtrand von Berlin. Der Mann war Ingenieur, die Frau Psychologin. Sie saßen in ihrem neuen Wohnzimmer, tranken Wein und waren froh, endlich weg zu sein. Sie hatten gespürt, wie das Haus kippte, und konnten die Schreie der betrunkenen Nachbarn nicht mehr ertragen. „Das soziale Milieu der Leute, die danach kamen, war immer eine Runde tiefer", sagte der Mann. „Man wird gleichgültig."

Dieser Hausaufgang schien mir zu sein wie ganz Hellersdorf. Es war eine Siedlergeschichte, die mich an Amerika erinnerte. Die Leute hatten zusammen angefangen, am Ende zerstreute sie die Zeit.

Einen kleinen Teil des Textes druckte die Berliner Zeitung vorab. Der Redakteur des Wochenendmagazins fragte mich, ob ich nicht die Namen der Hausbewohner ändern wolle. Ich sagte nein. Ich habe nie Texte geschrieben, in denen ich Namen änderte. Vielleicht, weil ich selber nur ungern Artikel lese, in denen falsche Namen vorkommen. Sie haben keinen Druck, sie verlieren ihre Verbindlichkeit. Auch dieser Artikel erschien mit Namen und Adresse der Leute. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhren die Mieter dieses Hauses, was sie voneinander hielten. Aber komischerweise richteten sie ihre Empörung nicht gegeneinander, sondern gegen mich.

Die alte Frau beschimpfte meinen Anrufbeantworter, aus Kaiserslautern, die junge Mutter war verzweifelt, der Sohn der ehemaligen Lehrerin schrieb einen Drohbrief, der Vater des Jungen, der die Parties feierte, beschwerte sich in der Chefredaktion meiner Zeitung, die betrunkene Familie beauftragte einen Rechtsanwalt, mich zu verklagen. Und das Paar, das in die Doppelhaushälfte geflüchtet war, schrieb eine Gegendarstellung, in der die beiden den Neubaublock, dem sie gerade entkommen waren, über die Maßen lobte. Die Zeitung druckte die Gegendarstellung, der Verlag änderte für das Buch sämtliche Namen und auch die Hausnummer des Aufgangs.

Die Leute im Haus hassten mich, jetzt stand ich hier und wurde mir dessen bewusst. Ich wäre sicher an dem Haus vorbeigefahren. Mein Auto war nicht zufällig an dieser Stelle liegengeblieben. Es klingt ein bisschen ulkig, aber in diesem Moment dachte ich wirklich an eine Art Strafe.

Die Skrupel wachsen, wenn Reporter älter werden. Wahrscheinlich begreifen sie immer mehr, wie vermessen ihr Beruf ist. Man begleitet einen Menschen zwei, drei Tage und beschreibt ihn dann endgültig. Und die meisten haben nicht mal soviel Zeit. Bei einigen alten Reportern entsteht der Wunsch, längere Texte zu schreiben, um dem Leben gerecht zu werden. Andere werden harmloser, verwaschener. Man kann auch anfangen zu trinken oder nur noch übers Fernsehen schreiben. Oder alles miteinander kombinieren.

Mein Kollege Axel Vornbäumen von der Frankfurter Rundschau hatte mir ein paar Tage zuvor gesagt, dass Reporter jung sein müssen. Ich war 36. Ich weiss nicht, wie jung das war, er sagte, man kann es bis vierzig machen. Jetzt im Auto begriff ich, was er meinte.

Ich hatte über Walter Momper, Eberhard Diepgen und Günther Schabowski geschrieben. Die Volksmusikanten Hauff und Henkler hatten der Super-Illu erklärt, dass ich ihre Karriere zerstört habe. Einige Freunde haben den Kontakt zu mir abgebrochen, nachdem sie
in meinen Kolumnen auftauchten. Ein Mitglied des Westberliner St. Hedwigchores verschickte Kopien alter DDR-Zeitungsartikel von mir an verschiedene Entscheidungsträger der Stadt, nachdem ich den Kampf des Ost- und Westchores beschrieben hatte. Ich habe Angst vor Ulla Klingbeil und ihrem Mann, der einst in der Konzernzentrale von Gruner&Jahr um meine Suspendierung bat. Der Wirt der Stumpfen Ecke in Oberschöneweide glaubt, dass ich an seinem Misserfolg schuld bin. Ich habe die Puhdys und Heinz Florian Oertel, die ich einst bewunderte, beschrieben. Mäcki Lauck ist tot, kaum ein Bürgerrechtler oder Privatradiomoderator redet noch mit mir. Viele haben mich missverstanden, aber das macht keinen Unterschied. Ich begriff in diesem Moment, dass es keine Fluchtpunkte mehr gab, nicht mal hier draußen in Hellersdorf war ich mehr sicher. Ich hätte nach Steglitz gehen können oder nach Frohnau, aber genauso gut hätte ich den Beruf aufgeben können.

Reporter hinterlassen verbrannte Erde. Ich hatte mich kaum aus Berlin rausbewegt, was offensichtlich seinen Preis hatte.

Irgendwann habe ich die Zentralverriegelung gelöst, ich bin ausgestiegen und fragte einen Mann, ob er ein Handy hat. Er hatte eins. Ich rief den ADAC an, sie haben mich gleich abgeschleppt. Das war alles, nichts ist passiert. Aber als ich ein paar Wochen später das Angebot bekam, nach New York zu ziehen, habe ich nicht lange überlegt. Ich habe noch eine kleine Laubenkolonie beschrieben, die sich am Gleisdreck zwischen Baufahrzeugen, Tunnelementen, U-Bahn, S-Bahn und Straßenstrich behauptet. Der letzte weiße Fleck auf meiner Karte.

Das Auto habe ich für 600 Mark an einen bärtigen Mann aus Odessa verkauft. Er hat bar bezahlt. Ich fahre jetzt einen Jeep. Der ist robust und man kann ihn auch auf dem Land benutzen.

Alexander Osang ist „Spiegel-Reporter" in New York und schreibt für die „Berliner Zeitung". Soeben erschien der erste Roman des Egon-Erwin-Kisch-Preisträgers: „die nachrichten".

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