Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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Der Mantel der Geschichte ist kein Armani

Gregor Gysis opernhafter Abschied von der Politik
Von Kerstin Decker

Gregor Gysi fuhr nach Cottbus. Energie Cottbus traf Bayern München. Ein Heimspiel. Doch was macht man in Cottbus vor und nach dem Fussball? Gregor Gysi konnte in die nächste Kneipe gehen. In den Wald. Oder zur PDS. Die hatte dort gerade Parteitag. Gysi schaute nach, wen die dort wählen wollten. So, wie Erwachsene ab und zu mal ins Kinderzimmer kommen. Gysi ist nicht mehr der Übervater der PDS. Eher eine Art Großonkel. Die Onkelhaftigkeit ist eine sehr komfortable Stellung zum Leben und hat nur einen einzigen Nachteil: Den Platz auf der Zuschauerbank. Es sei denn, man wird Regierender Bürgermeister von Berlin. - Ach was, sagt Gregor Gysi und schlägt resigniert einen Aktendeckel zu. Auf dem steht „Universität Hamburg". Immer diese Fragebögen! Er könne das nicht beantworten. Er antworte nie. - „Finden Sie, dass die Idee des Sozialismus nur falsch ausgeführt wurde? Ja oder nein?" Was solle er denn da ankreuzen, die Idee war schließlich auch ein bißchen verkehrt. - Gysi sitzt in perfektem blauschwarzem Anzug in seinem Büro. Auf der Couch liegt ein Krückstock mit roter Papiernelke und angebundener Salami. Sicher ein Abschiedsgeschenk. Wenn einer ein Amt niederlegt, ahnt er eben nie sofort die volle Tragweite dieses Schritts. Auch auf die Anfragen zu seinen Anzügen hat er schon nicht geantwortet. Gregor Gysi ist eben doch aus dem Osten. Anzüge trägt man. Schluss aus. Und von der Frage, ob der Mantel der Geschichte, den er spürte, ein Armani gewesen sei, trennen ihn mindestens zwei Generationen.

Vielleicht, ahnt man, verlaufen die wirklich unüberbrückbaren Unterschiede zwischen den Generationen.

Die Gysi-Generation. Da spürte noch jeder für sich, oft schmerzhaft, wie der Sozialismus Sprünge bekam. Für den Rinderzüchter mit Abitur Gregor Gysi, Sohn des jüdischen Kommunisten Klaus Gysi, war das 1968. Da hatte er gerade begonnen, Jura zu studieren. Gregor Gysi weiß, über Enttäuschungen kann man nicht juristisch urteilen. Aber eine juristische Anmerkung zum sowjetischen Einmarsch in Prag habe er dann doch gemacht. Nämlich dass er völkerrechtswidrig sei! - Dafür, sagt er, bekam ich ein Parteiverfahren. Gysi nimmt einen tiefen Zigarettenzug, um die Begründung besser auskosten zu können: Er berufe sich auf formales Recht, sagten die Genossen, wo es doch um Inhalte gehe. Sicher hielten die Genossen das formale Recht für spätbürgerlich-dekadent. Gysi lacht. Scharping ist ihm eingefallen. Scharping, der nach der dritten Jugoslawien-Debatte, als die PDS den Kriegseinsatz im Kosovo immer noch ablehnte, zu ihm sagte, er, Gysi, berufe sich auf formales Recht (die fehlende UNO-Legitimierung!), wo es doch auf die Inhalte ankomme! Wahrscheinlich sind es solche Momente, die Gregor Gysi immer wieder damit versöhnten, der meistangefeindete Politiker der Nation zu sein.

Nein, Gregor Gysi ist kein Parteimensch. Eher einer für die Zuschauerbank des Lebens. Den Brief Lenins an den KPdSU-Parteitag, in dem er davor warnt, Stalin zu seinem Nachfolger wählen, hielt Gysi lange für eine Art sozialistischer Offenbarung. Hat Lenin also gesehen, was kommt. Aber dann dachte Gysi die Sache nochmal anders. Strukturen, in denen es auf den Charakter des einzelnen ankommt, haben die nicht viel grundsätzlichere Fehler? - Wieder so eine
Generationensache. Die Bries, Gysi und Bisky, all die Kommunisten-Kinder, haben den Eigenwert formaler Strukturen noch tief in der DDR erkannt. Er war die Entdeckung ihres Lebens. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit hat Gregor Gysi gefordert am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Und gesagt, dass die beste Staatssicherheit die Rechtssicherheit ist. Wer weiß, wie viele ihn damals verstanden.

Aber hatte einer, der die DDR so durchschaute wie er, nicht eine Art moralische Pflicht zum Bürgerrechtlertum? Gysi zögert. In seinem Rücken trägt ein kleines Regal sichtbar schwer an einer meterlangen knallroten Gesamtausgabe. Marx/Engels? Lenin? Das Bundesrecht. Gysi zögert. Dass die grundsätzlichsten Entscheidungen im Leben so oft auf minimale Weichenstellungen zurückgehen. Gysi erinnert sich, wie er Rudolf Bahros „Die Alternative" las. „Das mussten sie mir ja geben, schließlich war ich sein Verteidiger." Allerdings nahm man es ihm hinterher gleich wieder weg.

Und Gysi las, war ernüchtert und voll Hoffnung zugleich. Der Umsturz von der Peripherie aus, so wie in Prag, sei hoffnungslos, las er. Man müsse das System aus seinem Zentrum sprengen. Dieser Satz blieb. „Sie konnten die DDR doch nie ohne die Sowjetunion denken. Zwanzig Millionen tote Russen im Zweiten Weltkrieg! Das rechtfertigt eine Einflusssphäre bis nach Deutschland hinein..."

Klar, wer so denkt, taugt nicht zum Flugblattverteiler. Gysi hat den Schachbrett-Blick aufs Leben. Züge vorhersehen und berechnen. Immer das Ganze denken. Den König mattsetzen - ja, gern. Aber ein spontaner Bauernaufstand in der ersten Reihe - „Scheiß Diktatur hier! Wir wollen Freiheit!" - ist dem Schachspielerblick doch fremd.

Die Gysis. Sie waren eine der ältesten jüdischen Familien aus dem Baseler Land. Aber die Schweiz ist wohl genau wie die DDR ein Staat, aus dem man irgendwann einmal ausreisen sollte. Gregor Gysis Onkel Gottfried reiste gleich ein bisschen weit weg, nämlich als DDR-Botschafter nach Uganda, und wurde dort von Terroristen erschossen. Gysi hatte auch eine Tante Doris. Sie war die Frau von Onkel Gottfried und Schriftstellerin. Doris Lessing.

Gysis Vater kam nur bis Rom, als Botschafter, er wurde auch nicht erschossen, sondern nachher noch Kulturminister. Ja, Parteivorsitzender war gut, schon als Gegengewicht zu seiner großen Schwester Gabriele, der Theaterregisseurin, die Mitte der 80er Jahre in den Westen ging.

Gregor Gysi, der Quasi-Retter der alten Genossen. Vielleicht tat er es auch für seinen Vater. Die Linke und die Vernunft zusammenbringen, ist das etwa keine Aufgabe? Klar, dass das nur wenige verstanden haben. Erst recht nicht der Westen. Erst recht nicht Helmut Kohl, der solche wie ihn „rotlackierte Faschisten" nannte, woran man erkennt, dass das Zwei-Koordinaten-Weltschema „Rechtsstaat oder Unrechtsstaat" manchmal auch nur die intellektuelle Höhe des DDR-Politbüros erreicht. Andererseits. Man sieht noch die Fernsehbilder vor sich vom Dezember '89. Der kleine Anwalt mit dem großen Besen. Dazu der launige Spruch „Neue Besen kehren gut." Und man dachte: Ist das jetzt nicht ein bisschen zu einfach? Ja, ja, ich weiß, sagt Gysi. Und er wisse auch noch, wie Roland Claus, sein Nachfolger, „Auflösung!" gerufen hätte. Viele wollten die SED auflösen. Er nie.

Gysi hebt den Schachbrett-Blick. Im Januar 1990 hätte er die Partei nicht auflösen können, weil die Lage zu instabil war. Eine Modrow-Regierung ohne eigene Fraktion? Der ganze Partei-Staatsapparat auf der Straße in einer DDR ohne Arbeitslosenrecht? Dazu der Gorbatschow-Anruf Ende 1989: „Mit der SED
lösen Sie die DDR und mit der DDR die Sowjetunion auf". Natürlich, im Juni 1990, überlegt Gysi, hätte man die PDS auflösen können. Aber da wollte keiner mehr. Und jetzt will er plötzlich nicht mehr. Denn einmal saß er noch nach dem 1. Akt der Oper im Bundestag. Da wusste Gysi, dass er sich entscheiden muss: Verdi oder die Politik.

Von der Oper lernen! Der Abgang Gysis war wirklich opernhaft. Mindestens drei Akte. Die große Rede im Bundestag zum 10. Tag der Deutschen Einheit, dann die Nichtkandidatur zum Fraktionsvorsitz am 2. Oktober. Und abends kommen Westerwelle, Sabine Christiansen und die anderen auf Gysis Abschiedsparty, als wäre die PDS nicht bis eben das Schmuddelkind der Nation gewesen, auf das man nur mit Fingern zeigt. So wie die DDR auf den Klassenfeind. Schröder geht mit Bisky essen. Kohl wäre nie mit Gysi essen gegangen. Allerdings würde Kohl heute auch nicht mehr im Bundestag zu Gysi sagen: „Reden wir einmal über die PDS und die geheime Kasse...!"

Dass es gerade die PDS sein würde, die als einzige so sichtbar vom Osten übrigbleibt! Diese Winkelschachzüge der Geschichte konnte sicher nicht mal Gysi vorausberechnen. Aber er kann sie erklären. Es hätte am Umgang des Westens mit den ostdeutschen Eliten gelegen. Gysi entwickelt jetzt eine neue Ost-West-Elitetheorie. Gysis Sekretärin bricht mitten in die Elitetheorie ein und erklärt, dass das Auto jetzt da ist. Er muß zur nächsten Talkshow. Jeder ahnt, er wird bald eine eigene übernehmen.

Manchmal dient man einer Sache mehr, wenn man sich zurückzieht, sagt Gysi, nimmt seine Aktentasche, zwei Tüten und schaut etwas ratlos auf den Krückstock mit Nelke und Salami. Im Fahrstuhl vergisst er die Aktentasche. Sie ist sehr schwer. Entweder da ist ein Leitfaden für Regierende Bürgermeister drin oder die halbe rote Gesamtausgabe. Für seine neue Anwaltspraxis. Oder auch seine neue Liebesgedichte-CD beim Eulenspiegel-Verlag. Gregor Gysi liest Goethe und „Junimond" von Rio Reiser. „Es ist vorbei-bei-bei, Junimond". Klang schon bei Reiser sehr optimistisch, so ein Abschied. Ich kann doch nicht absolut „Nein!" sagen, ruft Gysi noch aus dem Auto und meint den Bürgermeister-Posten: „Dann dürfte ich ja nicht mal darüber nachdenken."

Kerstin Decker ist Philosophin und Journalistin und schreibt u.a. für den „Tagesspiegel" und die „taz".

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