Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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„Man produziert nicht nur für's Feuilleton"

Zwischen Weltverbesserung und Müdigkeit
- ein Interview mit Sasha Waltz und Jochen Sandig

Jochen Sandig und Sasha Waltz sind seit 1999 zwei der vier künstlerischen Leiter der Schaubühne.

Sasha Waltz ist Tänzerin und Choreographin („Travelogue", „Allee der Kosmonauten"). Ihr neues Stück „S" hatte Anfang November an der Schaubühne Premiere. Jochen Sandig war Mitbegründer des Tacheles.

Beide gründeten 1995 die Spielstätte
„Sophiensäle" in Mitte.

Der Postmoderne ist politisches Theater suspekt. Warum ist es Euch wichtig?

J.S.: Wir wollen politisch relevantes Theater machen, kein Agitprop. Ein Theater, das Gesellschaft und Politik reflektiert. Die Welt hat sich verändert, ist sehr medial geworden. Es gibt den Begriff der „Neuen Mitte", einen Wertewandel und -verlust, Orientierung ging verloren. Für uns, für das Tanztheater ist die Bewusstwerdung des Selbst, die Besinnung auf die Sinne, auf die Grundbedürfnisse der Menschen sehr wichtig.

Utopien sind in den letzten Jahren in Verruf geraten.

J.S.: Vielleicht ist ja unser Anspruch idealistisch und naiv. Aber warum soll man nicht von einer besseren Welt träumen? Theater ist ein Ort, wo sich Menschen versammeln. Vor und während der Wende war in der DDR das Prinzip des Sich-Versammelns das Erlebnis von Gesellschaft - auch jüngst in Serbien. So verändert man etwas.

Aber nach dem Umbruch ist auf einmal jeder wieder für sich, und es geht nur noch um die Partikularinteressen.

Theater als Ort, wo Menschen sich als Gruppe erleben, das hat etwa die Volksbühne erreicht. Heute wird das manchmal geleugnet. Es gab aber Theater, die gesellschaftliche Relevanz neben der künstlerischen erreichten. Man produziert nicht nur fürs Feuilleton, sondern etwas, worüber im gesellschaftlichen Kontext diskutiert wird. Wir haben diese Reihe „Streiträume", wo wir Philosophen, Soziologen, eben ausserhalb des Theaters stehende Leute einladen, die eine andere Sicht auf die Welt haben. Vielleicht gibt es da etwas, was uns verbindet, was in unsere Arbeit einfließen kann.

Was macht das Weltverbessern so schwierig?

S.W.: Was Jochen beschreibt, kann man auch positiv sehen: Es beginnt mit einer großen Bewegung, dann wird man wieder auf sich zurückgeworfen und verliert das Ganze. Die Verbesserung der Welt beginnt aber genau bei der kleinen Erkenntnis im Selbst-Sein. Man muss Makro und Mikro gleichzeitig denken.

Wie sähe eine Kurve Eurer Euphorien und Müdigkeiten der letzten zehn Jahre aus?

J.S.: Meine Euphorie war beim Tacheles am größten. Man hatte manchmal das Gefühl, die ganze Welt schaue auf dieses Tacheles, auf diesen Brennpunkt Mitte. Beim Tacheles veränderten sich die Ideale, an einem bestimmten Punkt kam es zu einem Ende dieser Utopie. Die Sophiensäle waren sicher auch eine Reaktion auf diese enttäuschten Hoffnungen. Man fängt wieder bei Null an, im Kleinen, und konzentriert sich auf eine Sache.

Jetzt sind wir auf einmal in der Schaubühne, einem Theater, das die 68er Generation gründete, die damals auch mit großen Utopien gestartet war. Dieser Theaterbetrieb ist ein ganz anderer Organismus. Man hat immer das Gefühl, dass man das Alte fast komplett über Bord werfen muss, um Dinge ganz neu anzugehen.

S.W.: Mein euphorischstes Erlebnis war der Beginn der Company 1992. Da dachte ich, ich kann gar nicht mehr aufhören. Aber die Zeit jetzt ist nicht weniger intensiv und stark. Nur reagiere ich weniger euphorisch, weil unser Erfahrungshorizont - auch durch die Tourneen - inzwischen so weit geworden ist. Die Schaubühne ist auch eine wichtige Erfahrung und meinen Träumen relativ nah - nicht als Struktur oder System, aber als ideelle Möglichkeit. Die wird zwar stark blockiert durch das System...

J.S.: Im Tanzbereich der Schaubühne, einer Gruppe von 30, 35 Leuten, haben alle das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein. Im Gesamtbereich Schaubühne ist es für uns beide etwas schizophren. Wir sind jetzt Angestellte. Wir waren immer freie Unternehmer, haben mit großem wirtschaftlichen Risiko agiert, waren aber immer handlungsmächtig. Nun müssen wir mit den Kollegen des Schauspiels und der Verwaltung eine gemeinsame Linie finden. Aber es geht nur so. Man muss immer auf etwas verzichten, um den nächsten Schritt zu gehen. Hier war es der Verzicht auf totale Handlungsfreiheit.

Was macht euch müde?

J.S.: Genau das.

S.W.: Das System, Machtstrukturen. Arbeitsprozesse werden extrem verlangsamt durch die Bürokratie. Es ist auch das Zusammentreffen des Alten und des Neuen. Meist funktioniert es toll, aber bei manchen gibt es auch eine totale Blockade.

Wird man mit einem Kind ein noch größerer Weltverbesserer - oder wird man eher müde?

S.W. (lacht): Man ist oft sehr müde. Mit einem Kind schaut man die Welt mit ganz anderen Augen an und reagiert stärker auf gesellschaftliche Probleme. Beispiel Genforschung. Wie weit kann man eine Utopie denken und darf man sie verwirklichen? Vor zehn Jahren gab es diese Frage so noch nicht. Ich habe sie erst mit Laszlos Geburt für mich klar erkannt. Ich denke auch über ganz banale Probleme nach. In welcher Welt wächst das Kind auf und wie stellt man sie sich vor? Was akzeptiere ich und was vermeide ich?

J.S.: Für mich sind die Prinzipien Hoffnung und Verantwortung jetzt viel wichtiger. Wenn man ein Kind hat, denkt man über die eigene Existenz hinaus. Ein Kind ist immer mit Hoffnung und Zukunft, Weiterentwicklung verbunden. Andererseits gibt es das Prinzip Verantwortung. Die größte Ideologie, der die freie Marktwirtschaft gehorcht, ist die Freiheit. Alles andere ist diesem Maximalbegriff der Gesellschaft untergeordnet. Das ist oft missverstanden und missbraucht worden. Ich glaube, dass Grenzen wichtig sind. Dass nicht alles, was machbar ist, gemacht wird. Man muss Verantwortung übernehmen, auch für die ungeborenen Generationen.

Das Schlimme ist, dass die meisten
Politiker etwas anderes vorleben. Man nimmt nur sehr wenigen Politikern ein ernsthaftes Verantwortungsgefühl ab, über die eigene politische Existenz hinaus zu denken und zu handeln. Damit fehlen auch Leitbilder. Die Suche nach Halt ist schwierig. Die Kunst ist ein Ort, wo man die Welt anders denken kann.

Die Spandauer Vorstadt, in der ihr lebt, ist inzwischen fast fertig. Fühlt Ihr Euch in diesem definiertem Gebiet wohl?

S.W.: Ich bin so unentschieden. Das Spannende ist weg. Ich gehe nicht aus, ich gehe in keine Bar ... Eigentlich bietet mir das Gebiet nicht mehr das, was ich jetzt für mein Leben bräuchte. Deshalb wäre es eher konsequent wegzugehen. Diesen Schritt machen wir aber doch nicht. Für mich wäre die Alternative, aus der Stadt zu ziehen. Mir fehlen Natur, Bäume, gute Luft. Wir waren am Wochenende draußen. Ich hatte danach so eine unglaubliche Energie! Die Stadt nimmt mir so viel Kraft, gibt mir aber nichts zurück. Nicht an meinem heutigen Lebenspunkt.

J.S.: Für mich ist die räumliche Nähe zu Freunden wichtig. Ich weiß, sie wohnen hier und man könnte sie spontan besuchen. Es gibt schon Belastungen hier, etwa den Fluglärm. Aber mich beschäftigt ganz anderes. Wir waren im letzten Februar zum Gastspiel in Indien und haben das Gefühl bekommen, dass das hier doch nicht alles sein kann. Unsere Gesellschaft dreht sich irgendwie im Kreis. Warum soll man nicht auch mal ein halbes Jahr in Indien leben und arbeiten? Ich habe schon eine Sehnsucht danach, nützlich zu sein.

S.W.: Es ist tatsächlich ein Bedürfnis, dorthin zu gehen, wo noch nicht alles fertig ist. Ob das ein altes Haus auf dem Land ist, ob man in eine andere Stadt geht oder nach Indien - egal. Es bedeutet immer etwas Neues.

Die Bedürfnisse verändern sich, aber der Horizont auch - da muss es neue Herausforderungen geben. Und die sind stärker, wenn es entweder nichts gibt oder eine schwierige Situation oder etwas Trennendes.

J.S.: Beim Reisen stellt man fest, dass viele unserer Probleme banal sind. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, die haben richtig existentielle Sorgen. Wir sahen in Indien Menschen, die hatten buchstäblich nichts, nichts zum Anziehen...

S.W.: ...nicht mal einen Regenschirm gegen die Sonne...

J.S.: ...nur eine Pappe, auf der sie schlafen. Wenn man sich dann mit unserem Lebensniveau konfrontiert, verschiebt sich vieles. Man fragt sich, wie man diese Ungerechtigkeit erträgt. Man hat das Gefühl, etwas tun zu müssen.

Aber die Kehrseite des Bewusstseins ist die Verdrängung, und die Kehrseite der Weltverbesserung ist die Müdigkeit. Vielleicht gibt es ja ohne Müdigkeit keine Weltverbesserung: Ohne Müdigkeit gibt's keinen Schlaf, ohne Schlaf keine Träume. Wenn man sich permanent den ganzen Weltproblemen aussetzt, wird man entweder wahnsinnig oder ohnmächtig. Meine Eltern haben viel in der Friedensbewegung gearbeitet. Als Kind dachte ich oft: Jetzt gehen die schon wieder auf eine Demo, was soll das. Aber ich bin auch froh drüber. Ohne solche Träumer und „Bewegten" würde sich nichts bewegen.

„Das Fertige" macht mir schon Probleme. Laszlo wächst hier auf in einer fertigen Welt. Alles ist geordnet. Diese extrem verrückte Situation vor zehn Jahren ist vorbei, wo wir alle sagten, die Welt ist uns offen, diese kleine Welt Mitte, hier kann jeder etwas Verrücktes machen. Du scheinschlag, ich Tacheles, Sasha ihre Company ... Diese extreme Freiheit, sich irgendwas aussuchen zu können, woran man glaubt und was man macht, die ist so nicht mehr da. Oder gibt's die immer? Und man sieht sie nur nicht?

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