Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Bye, bye, Danziger

Eine Homestory von Annett Gröschner

Der Auktionator hob sein Hämmerchen: „Zum ersten. Will denn niemand mitbieten? Wenn ich nicht der Auktionator wäre, ich hätte das Haus sofort ersteigert. Beste Lage, guter Zustand. Zehn Minuten Fußweg bis zum Kollwitzplatz. Wirklich niemand? Die Herren da am Stehtisch?" Die Herren am Stehtisch hatten sich ein Haus vorher noch eine Steigerungsschlacht mit einem Mann aus der dritten Reihe geliefert. Es ging um ein Haus in Angermünde, und ich sah sofort, daß der Mann in der dritten Reihe das Haus wirklich haben wollte, die Herren am Stehtisch aber den Preis nur hochtrieben. Sie standen lässig da in ihren Anzügen, einen Ellenbogen locker auf dem Stehtisch. Sie hatten ihre jüngeren Freundinnen mitgebracht, denen sie offensichtlich
imponieren wollten. Die Frauen langweilten sich. „Zum Zweiten. Lassen Sie das Objekt nicht so preiswert weggehen. Ich sage es noch einmal. 1.906 Quadratmeter Wohnfläche. 31 Wohnungen. Und entgegen unserer Katalogangaben sind von den 31 Wohnungen nur noch zehn vermietet. Schlagen Sie zu." Aber es hob sich keine Hand. Das Hämmerchen klopfte. „Zum dritten", rief der Auktionator. Stille. Mit dem dritten Hammerschlag war alles vorbei. Das Haus ging für das Mindestgebot von 1,78 Millionen an einen unbekannten Interessenten.

*

Was hier im Keller des Maritim-Hotels an der Friedrichstraße versteigert wurde, war mein Haus. Aus der Sicht der Eigentümer ist es natürlich nicht mein Haus. Ich hatte 100 Quadratmeter davon gemietet. Seit der Wende gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen Besitz, Eigentum und Nutzung. Trotzdem war es mein Haus, denn ich habe die altmodische Vorstellung, dass ein Raum, der mein Lebensmittelpunkt ist, mir auch gehört. Auf dem Foto, das ein Videobeamer an die Wand warf, konnte ich meine Gardinen sehen und die Schreibtischlampe. Dahinter stand bis vor kurzem mein Schreibtisch. An ihm hatte ich fünf Bücher geschrieben. Ich wusste, wann welches Licht durch die Fenster kam und ich konnte, wenn mir ein Wort nicht einfiel,
in meinem Zimmer auf- und abgehen, denn es hatte 43 Quadratmeter. Es hat 43 Quadratmeter. Aber es ist nicht mehr mein Zimmer. Die anderen Fenster auf dem Foto waren leer, keine Gardinen, keine Blumen.

*

Vor drei Jahren bekam ich die Wohnung in der Danziger Straße. Mich störte der Verkehr vor dem Haus nicht. Ich fand, dass er zur Stadt gehöre. Nur tagsüber konnte ich wegen der Lautstärke die Fenster nicht
öffnen. Der Balkon war traumhaft groß, aber zum Verweilen nicht geeignet. Auch gefiel mir der Name der Straße nicht. Danzig klingt in meinen Ohren revanchistisch. Der Senat hatte die Straße in einer Nacht- und Nebelaktion umbenannt. Angeblich aus historischen Gründen, eine Rückbenennung. Doch der Abschnitt der drei Kilometer langen Straße hatte niemals Danziger geheißen. Ich schrieb noch eine Weile Dimitroffstraße als Absender, aber dann wurde ein Brief aus Moskau zurückgeschickt mit der Angabe „Straße unbekannt".

Zwischen Greifswalder und Bötzowstraße ist die Danziger das Gegenstück zum Kollwitzplatz, wo es mittlerweile „très chic" ist und dessen Bilder spätestens mit dem Clinton-Besuch um die Welt gingen. In meinem Teil der Danziger schlossen seit 1997 fast sämtliche Geschäfte, selbst die Berliner Bank. Eine Zeitlang versuchten noch ein paar Billigläden ihr Glück. Was zuletzt übrig blieb, waren ein Puff, ein Autohaus für gebrauchte Großlimousinen und zwei Dönerbuden. Alle sind irgendwie über einen Paten miteinander verbandelt. Jeden Morgen schreitet er die Straße ab, und sein Habitus sagt: Leg dich ja nicht mit mir an. Umrahmt wird sein Reich nur von einem vietnamesischen Lebensmittelhändler, der täglich ums Überleben kämpft, und einem Zeitungsladen, der jenem Mann gehört, der als Offizier der Grenztruppen am 9. November 1989 an der Bornholmer Straße die Grenze öffnete. Die Danziger Straße erfuhr, was Stadtplaner das „Umkippen" von Gegenden nennen. Um die Ecke, in der Hufelandstrasse, hat dagegen die Anzahl der Delikatessengeschäfte erheblich zugenommen. Trotzdem habe ich in der Danziger gern gewohnt. Meine Wohnung war komplett saniert und trotzdem preiswert. Endlich würde ich Ruhe haben vor Vermietern mit ihren utopischen Umbauwünschen.

Ich hatte mich leider geirrt. Die Bank, der mein Haus gehörte, schrammte nur knapp an einem Krach vorbei und begann, ihre Immobilien abzustoßen. Mein Haus wurde von der Odysseus GmbH übernommen. Der Name gefiel mir überhaupt nicht. Zehn Jahre musste der antike Held unbehaust herumziehen. Die neue Eigentümerin wollte Eigentumswohnungen aus den Wohnungen machen und sich liquidieren. Wir bekamen unsere Wohnungen für 3000 Mark pro Quadratmeter angeboten. Freundlicherweise machte die Verwertungsfirma uns darauf aufmerksam, daß wir noch mindestens 1500 Mark zum Leben bräuchten neben den 2000 Mark monatlicher Kreditbelastung. Dankend lehnten wir ab. Die neuen Eigentümer schickten Architekten durch das Haus, die von eben jenen utopischen Umbauten sprachen. Wände sollten versetzt, französische Fenster bis zum Boden eingebaut und das ganze Haus entkernt werden. Da zogen die ersten aus.

Doch weil das Haus im Sanierungsgebiet liegt, würde es so schlimm schon nicht kommen, meinten wir verbliebenen Bewohner. Der Bezirk lehnte die Umbauten ab und setzte die Mieterberatung zur Vermittlung zwischen Mietern und Eigentümer ein. Um jeden Quadratmeter Umbau gab es zähe Verhandlungen. Am Ende hatte ich erreicht, dass in meiner Wohnung nur das Nötigste verändert werden würde. Meine Bücher sollte ich hier lassen können und wegen des Baulärms
für fünf Monate in eine kleine Umsetzwohnung ausweichen. Inzwischen hieß die Odysseus GmbH Pluton GmbH. Pluton, aus dem Reich der Toten. Der Unterwelt. Manchmal auch als Gott des Reichtums bezeichnet.

*

Mein Sohn und ich waren die Letzten im Vorderhaus. Ich konnte abends nicht mehr weggehen, weil er sich allein fürchtete. Jeder nächtliche Schritt im Treppenhaus hieß - hier kommt jemand, der im Haus nichts zu suchen hat. Einige Wochen zuvor hatte sich die letzte Nachbarin bei uns verabschiedet. Frau K. war von der schlichteren Sorte. Als uns angekündigt wurde, wir müssten während der Sanierung ausziehen, hatte sie nur gesagt: „Ziehn wir jetzt alle mal für'n halbes Jahr in eenen Container. Is' doch ooch mal schön, wa, mal wat andret." Sie bekam dann eine Umsetzwohnung. Als sie ging, sagte sie: „Ick hab det im Urin, daß det länger dauern wird wie fünf Monate." Ich hatte sie reden lassen. Frau K. redete immer viel. Wir hätten alle Modernisierungsvereinbarungen, in denen die Dauer der Umsetzung klar geregelt sei, sagte ich. „Die könn' doch ville erzählen. Die Frau, die vorher in meiner Umsetzwohnung jewohnt hat, musste zwei Jahre dort aushalten." Ich zog nur ein paar Straßen weiter. Wir würden es schon aushalten in zwei Räumen, für diese fünf Monate. Meine Bücher und die Sachen, die ich glaubte solange entbehren zu können, blieben in der Danziger Straße.

*

Drei Tage später, als ich meine Post dort holen wollte, traf ich eine Mieterin im Hausflur. Sie war den Tränen nahe. Sie hatte ihre Modernisierungsvereinbarung nicht mehr unterschreiben können, weil es der Firma nicht gelungen war, die Eigentumswohnungen zu verkaufen, und sie das Haus nun komplett veräußern wollte. Seit genau fünfzig Jahren wohnte Frau R. in einer kleinen Wohnung im Quergebäude. Damals war sie sehr stolz darauf. Es war die Zeit, als es im zerstörten Berlin für junge Eheleute nur Zimmer zur Untermiete gab. Jetzt war sie allein übrig von den vielen Mietern, die im letzten halben Jahrhundert ein- und ausgezogen waren. Man hatte ihr einen Balkon, ein Bad und eine Heizung versprochen. Für die Zeit des Umbaus sollte sie ausziehen, um danach zurückzukommen. Nun, mit neuem
Eigentümer, aber war abzusehen, dass das ganze Theater mit Umsetzwohnung, Sanierung und Wiedereinzug sich verzögern würde. Die anderen Wohnungen würden inzwischen leerstehen. Die Frau unterschrieb den Mietvertrag für eine neue Wohnung. Fünfzig Jahre nach dem Tag, an dem sie stolz den Vertrag in der Danziger Straße unterschrieben hatte. Und auch ich wußte, daß ich in die Danziger Straße nicht mehr zurückkehren würde. Man bot mir eine weitere Wohnung, die ich nahm. Ich hatte nicht die Kraft, allein im Vorderhaus für meine Rechte zu kämpfen.

*

Mit Hilfe der Mieterberatung war damit geschafft, was jeder sanierungswillige Eigentümer schätzt: Das Haus stand fast leer, nur im Hinterhaus blieben fünf Mietparteien und warteten ab.

Der neue Eigentümer aber stellte sich als Strohmann heraus. Einem der fünf Mieter wurde der Katalog eines Aktionshauses zugespielt. Objekt 43: Unser Haus. Das zugehörige Verkehrswert-Gutachten lockte: „Bei dem zu bewertenden Objekt wird sich jedoch mehr als der ermittelte Ertragswert als Verkaufserlös realisieren lassen. Insbesondere die Vorlage von sanierungsrechtlicher Genehmigung und Baugenehmigung für Modernisierung und Dachgeschossausbau sowie das Vorhandensein leerstehender, bereits sanierter Wohnungen bieten eine optimale Voraussetzung für eine zügige Modernisierung, in deren Folge eine deutliche Steigerung der Erträge möglich ist."

*

Derjenige, der das Haus schließlich ersteigerte, wollte nur ein bißchen spekulieren. Zum Mindestgebot ersteigern und dann teuer weiterverkaufen. Er fand aber keinen Abnehmer. Der Ausgang ist offen. Der Hausmeister hat seine Tätigkeit eingestellt.

Manchmal fahre ich nachts an meinem alten Haus vorbei. Es gibt keine Gardinen mehr an meinen Fenstern. Dunkel und still liegt das Haus zwischen den erleuchteten Nachbarhäusern. Eine Immobilie, ihrer Bewohner beraubt, die nun wie Odysseus weitergesegelt sind.

Annett Gröschner ist Schriftstellerin und arbeitete lange für die Zeitschrift „Sklaven". Im August erschien als fünftes Buch ihr erster Roman „Moskauer Eis".

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