Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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Salon oder Saloon?

Berlin als „Frontier-Town" - Heimat für Desperados und prekäre Existenzen

Von Wolfgang Kil

Im Frühjahr 1998 hatte das Europa-Institut der Harvard-Universität namhafte Gäste aus Berlin eingeladen, um mit ihnen über die Perspektiven der alt-neuen deutschen Hauptstadt zu diskutieren. So beeindruckend die geradezu intimen Berlin-Kenntnisse der amerikanischen Veranstalter waren, so überraschend klangen oft ihre Befunde. Besonders irritierend für die Gäste mußte der Vortrag des Bostoner Soziologen John Czaplicka klingen, der den anwesenden Berliner Senatoren, Parteipolitikern, Planern und Journalisten eine sehr dringliche Botschaft zu übermitteln versuchte: „Hören Sie auf, sich Ihre Stadt immer nur als florierende Handels- und Finanzdrehscheibe zwischen Ost und West vorzustellen. Realistischer wäre, Berlin würde sich auf eine Zukunft als Frontier Town mitten in Zentraleuropa einstellen."

Dieser Begriff Frontier Town, für den es im Deutschen keine adäquate Entsprechung gibt, umschreibt (unter Rückgriff auf die Besiedlungsgeschichte Nordamerikas) weniger einen Zustand als das prekäre Wachsen einer Stadt „in weitgehend noch unbekanntem und ungesichertem Gelände". Die Frontier Town ist nur vage von eigenen Projektionen und Zielvorstellungen bestimmt, hingegen enorm abhängig von den jeweiligen äußeren Konditionen, die man aufmerksam beobachten und berücksichtigen muß. Wegen ihrer vielfach ungeklärten Zustände ist sie aber auch von unschlagbarer Attraktivität für Glücksritter, Erfinder und Outcasts jeglicher Couleur. Sie ist das „Eldorado" im klassischen Sinne und wird von unentwegt neu auszuhandelnden Absprachen und Gebräuchen mehr beherrscht als von althergebrachten Gesetzen und zivilen Traditionen. Ihre gesellschaftliche Bühne ist „weniger der Salon als vielmehr der Saloon" (Uwe Rada).

Man sollte das nicht mit der „Grenzstadt" in dem für Berlin bis zum Mauerfall geltenden Sinne einer „Bastion" verwechseln. Es war der Kalte Krieg, der uns mit seinen ideologischen Tabus und politischen Verfolgungssyndromen die Vorstellung von der Normalität massenhaft freier Beweglichkeit über nationalstaatliche Grenzen hinweg ausgetrieben hat. Wer nun, nach dem Ende der Systemrivalitäten, nur genügend Neugier und Tatenlust aufbringt, dem wird die Frontier Town zur Verheißung, denn in ihr dominiert nicht so sehr die „Aus- oder Abgrenzung" als vielmehr die „Begegnung" (was „Konfrontation" ja nie ausschließt). Insofern kann die so romantisierte wie klischeebeladene Frontier Town des amerikanischen Wildwestfilms durchaus dazu taugen, ein stadttypologisches Phänomen des „Alten Europa" zu illustrieren: die extrem dynamische (und niemals reibungslose) Transformation eines Ortes durch Glückssucher und anderes „Gelichter". Mit jenen verwegenen Gestalten kommen provozierende Fragestellungen unter die Alteingesessenen, ungeahnte Kräfte der Phantasie und der Improvisation. Und es kommt der ungewisse Ausgang der Geschichte.

Soziale Elastizität auch für Plattenbeton

Für eine verträgliche Integration größerer Gruppen von Zuwanderern muß eine Stadt bestimmte Voraussetzungen aufweisen. Die meisten Stadtviertel Berlins, zumal jene in unerschwinglicher Citylage, bieten bisher dafür eher geringe Chancen. Erfahrungsgemäß vollziehen sich Ankunfts- und Integrationsprozesse am leichtesten in Mischgebieten, die ihre Strapazierfähigkeit einem ständigen Nutzungswandel verdanken: Wohnen, Arbeiten und Handel möglichst bunt ineinander verzahnt, dazu Pensionen, Hostels und andere billige Herbergen, bieten eine Vielfalt an Möglichkeiten, sich zu treffen und einander unter die Arme zu greifen. Hier können Neuankömmlinge in den verzweigten Familienökonomien ihrer Communities eine Überbrückungshilfe bekommen, bis sie Fuß gefaßt haben. Denn genau dies erhoffen sie: nicht Almosenempfänger sein, sondern möglichst bald und aus eigener Kraft einen Platz in der Stadt zu erringen.

Schon die skizzenhafte Beschreibung einer solchen „Ankunftszone" läßt erkennen, daß das Funktionieren einer Frontier
Town nicht von einer imposanten Hochhauskulisse oder von der Pracht neuer Einkaufspassagen abhängt. Indem sie alle Kraft nur auf die historischen Highlights oder kommerziellen „Spitzenadressen" richtet, läuft die Berliner Stadtentwicklungspolitik Gefahr, sich im Zentrum mit Wohlstandsfassaden zu umgeben, die einem die Wahrnehmung der verschiedenartigen Problembezirke dahinter ersparen.

Es sind aber immer die Krisenbezirke, in denen die Stadt ihren Herausforderungen zuerst begegnet. In Kreuzberg hatte Berlin schon zu Mauerzeiten testen können, wie es sich so lebt mit dem Verschwinden der Industriearbeit, am Beginn der großen Völkerwanderungen und im Angesicht erlahmender sozialstaatlicher Sicherungssysteme. Heute sind es vor allem die um eine zeitgemäße Identität ringenden Neubaukomplexe Hohenschönhausen, Marzahn oder Hellersdorf, in denen die fundamentale Verwandlung Berlins seit dem Mauerfall besonders deutlich spürbar wird: das Ende aller etablierten Gewißheiten, das Abdriften immer größerer Bevölkerungsteile in die Risikozone der prekären Existenzen.

Da können Wohnumfeldverschönerungen die eigentliche, funktionale Anpassung der Stadt an ihre neuen Lebensperspektiven nur kaschieren. Denn es geht um mehr: um die soziale Elastizität der bislang reichlich starren Neubauwohnviertel. Aber blanke Überlebensnot muß die Kreativität von „Machern" nur genügend anstacheln - dann werden sogar die rigiden Typenkonstruktionen aus Beton umnutzbar; dann ziehen Reisebüros, Sonnenstudios oder Blumenläden auch in vormalige Abstellräume oder trickreich umgewidmete Erdgeschoßwohnungen. So kann ein Gang durch Marzahn oder Hellersdorf inzwischen zur Entdeckungsreise werden: Wo früher Wäsche trocknete, werden heute Bananen, Tee oder Versicherungen verkauft, im gastronomisch unverpachtbaren Großrestaurant stehen Fitnessgeräte, aus dem Lagerraum der Haushandwerker wurde erst ein Passbildatelier, dann ein Copyshop. Und neben jedem Supermarkt, auf jedem Bahnhofsvorplatz lungert die Vorhut aller individuellen Marktinitiative - die Kiosk-Karawane für Blumen, Räucheraal und Jogginghosen. Hier darf die Dienstleistungsgesellschaft in ihrer ursprünglichsten Form inspiziert werden - rauh, zügellos, unverwöhnt, der mitteleuropäisch domestizierte Basar, die Survival-Ökonomie derer, die nach den ziemlich gnadenlosen Gesetzen der globalen Modernisierung „übrigbleiben".

Wo diese es mit Geschick und Hartnäckigkeit zur Stabilisierung eigener Netzwerke und Produktionskreisläufe gebracht haben, entstehen urbane Strukturen von äußerst lebendiger, weil „naturwüchsiger" Art. Hoch im Norden Marzahns beispielsweise sind es neben langansässigen Existenzgründern vor allem türkische, vietnamesische und russische Geschäftsleute, die völlig selbstverständlich zahlreiche Läden der Havemann-Passagen gepachtet haben und somit buchstäblich auf den letzten Metern vor dem Stadtrand ein farbiges Nebeneinander der Kulturen praktizieren, das tatsächlich metropolitan ist und in solcher Konsequenz bisher allenfalls tief im „türkischen" Kreuzberg zu beobachten war.

Berlin: Offene Stadt?

Ein absehbares Schicksal Berlins als Einwanderungsstadt inmitten eines in Bewegung geratenen Kontinents ernstzunehmen würde bedeuten, die noch intakten Mischgebiete vor weiterer sozialer Homogenisierung (sprich: Gentrifizierung bzw. „Aufwertung") zu bewahren, insgesamt auf ein erschwingliches Niveau der Lebenskosten zu achten und der Moderation kultureller Vielfalt absolute Priorität in der Lokalpolitik einzuräumen. Die eigentliche Leistung werden jene dann schon selber vollbringen, die in Berlin ankommen mit wenig Gepäck, aber großer Hoffnung. Wie schon zu früheren Zeiten werden es der Kurfürstendamm und der Tauentzien sein, von dem sie heimlich träumen; aber in der Realität ihres Alltags werden sie auf die praktische Solidarität ihrer Landsleute angewiesen und auf der Suche nach den Billigangeboten sein, ob für die Übernachtung oder für den Lebensunterhalt.

Wer Berlin als wirkliche Metropole gestalten will, der muß auch mit den Lebensansprüchen der Zukurzgekommenen rechnen. Der sollte städtische Räume und ordnungsrechtliche Nischen offenhalten, in denen auch die Mittellosen an der Sicherung ihrer Existenz arbeiten können. Solche Gegenden werden heute anders aussehen als das pittoreske Scheunenviertel aus Döblins Zeiten. Aber sie werden sich ganz sicher der blitzblanken Übersichtlichkeit unserer schönen neuen Designerwelt entziehen. Hier wird ein härteres, ungeschminktes und wahrscheinlich bunteres Leben die Szene bestimmen.

Ex Oriente Lux. Ex Okzidente Luxus. Man könnte denken, der polnische Autor Stanislaw Jerzy Lec hätte einen seiner verschmitztesten Aphorismen speziell den Berlinern ins Poesiealbum geschrieben. Das mit dem Luxus als Etikett des Westens bereitet ja kaum jemandem Schwierigkeiten; wohl aber die Anerkenntnis, daß im Bild vom „rauhen und wilden Osten" mehr an Berliner Zukunft skizziert sein könnte, als luxuriös verwöhnte Lebensart sich heute erträumen mag. Man sollte einfach neugierig sein: Mit einiger Wahrscheinlichkeit entsteht hier die Stadtgesellschaft Berlins für das neue Jahrtausend.

Wolfgang Kil ist Architektur-Kritiker und erhielt 1997 den Kritikerpreis des Bundes Deutscher Architekten BDA.
Kürzlich erschien sein jüngstes Buch „Gründerparadiese - Vom Bauen in Zeiten des Übergangs".

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