Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1900

19. Oktober bis 15. November

Die große Schachvorstellung des Weltschachmeisters Dr. Lasker und des ungarischen Champions Géza Maróczy findet am 19. Oktober in der Philharmonie statt. Die beiden berühmten Schachspieler kämpfen gleichzeitig 30 Partien gegen Gegner aus dem Publikum. Während Maróczy in hastiger Eile von Schachbrett zu Schachbrett eilt und seine Züge macht, spielt Dr. Lasker in gewohnter Ruhe. Unter den freiwilligen Spielern befindet sich auch Professor Reinhold Begas, der trotz aller Bemühungen ebenso wie alle anderen Spieler von den beiden Meistern besiegt wird.

Gönczi, der um sein Leben kämpfende Mörder, leidet stark unter den Folgen der langandauernden seelischen Depression. Er ist niedergeschlagen und sieht sehr gealtert aus. Den Tag verbringt er mit stumpfem Hinbrüten und zeitweisem Lesen von Büchern, die ihm der Anstaltsgeistliche P. Hirsch gebracht hat. An jedem Vormittag wird er von 9.30 bis 10 Uhr in einem kleinen Hof des Untersuchungsgefängnisses an die frische Luft geführt. Hierbei werden ihm die Handschellen, welche durch eine eiserne Stange mit einander verbunden sind, abgenommen. Während der Nacht wird der Verbrecher auch an den Füßen gefesselt. Gönczi ist in einer besonders gesicherten Zelle, der ersten des Parterregeschosses des unmittelbar an die Centrale grenzenden Flügels E untergebracht. Das von seinem Official-Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Herbert Fränkel abgefasste Gnadengesuch ist nun eingereicht worden. Eine Rücksprache mit seiner noch immer im St. Hedwigs-Krankenhaus weilenden Frau hat Gönczi weder gehabt noch erbeten. Noch nicht bestätigt ist die Nachricht, dass das Gnadengesuch abgelehnt ist und der Verurteilte nach Plötzensee überführt werden soll.

Eine zweite Zufahrtsstraße zum Bahnhof Zoologischer Garten wird die Stadt Charlottenburg auf eigene Kosten herstellen. Die gegenwärtig durchaus unzulänglichen Verhältnisse der Zufahrtstraße längs der verlängerten Joachimsthaler Straße zwischen dem Bahnhofsgebäude und dem Zoologischen Garten haben dem Charlottenburger Magistrat das Projekt eingegeben, auf der Vorderseite des Bahnhofes zwischen Hardenbergstraße und Kurfürsten-Allee, also auf dem Terrain der jetzigen Westeisenbahn, eine zweite Zufahrtsstraße zu schaffen. Die Verkehrsschwierigkeiten hofft man dann in der Weise zu bewältigen, dass die Joachimsthaler Straße für die Abfahrt und die neue Straße für die Ankunft der Eisenbahn-Reisenden des Fernverkehrs benutzt werden kann. Nachdem die Aufsichtsbehörden ihre Zustimmung bereits erteilt haben, hat der Magistrat die Fluchtlinie für die neue Straße festgesetzt.

Rheinische Winzerstuben sind das neueste Ergebnis des rastlosen Schaffensdranges auf dem Feld des gastronomischen Kunstgewerbes in Berlin. Denn echte Kunst, findige Industrie und klassische Gastronomie haben sich in Berlin zu einem Bunde vereinigt, der neuerdings recht oft in Erscheinung tritt. Die Gastwirthschaften von heute begnügen sich längst nicht mehr mit der einstigen „Eleganz". Stattdessen predigen sie uns Ästhetik, Kultur- und Kunstgeschichte. Die beiden Winzerstuben Leipziger Straße 31 und Friedrichstraße 96 sind dafür gute Beispiele. Beide sind so herausgeputzt, dass sie uns beim dürftigen Wein in die Rebengelände von Rhein und Mosel versetzen. Doch das Lokal in der Friedrichstraße bietet doch noch etwas mehr.

Der Architekt Otto Ließheim und die Maler Max Fritz und Heinrich Wilke haben sich alle Mühe gegeben, die Gäste aus den öden Alltagsgefühlen zu reißen. Die sehr lebendigen landschaftlichen Fresken im winzerisch dekorierten Hauptsaal verherrlichen Rhein- und Moselszenen. Im Kloster-Keller bringt man uns mit echter Schnitzerei ins mittelalterliche Deutschland. Des Lobes voll sind alle Gäste über die Gaben der Weinkeller von Hans Wasum aus Bacharach a. Rh., von Friedrich Wallburg in Berlin und von S. Troplowitz u. Sohn in Breslau sowie die kulinarischen Regiekünste des geschäftlichen Leiters der Winzerstube, Herrn Robert Sommerfeld. Der wilde Czardas und die melancholischen Rhapsodien Ungarns, auch die fröhliche Winzerstuben-Mazurka des Herrn Burwig, dargebracht von einer Zigeunerkapelle, erfüllte alle Räume, alle lauschigen Zecherecken.

Der Neubau der „Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland" auf dem Grundstück Eisenacher Straße 11 bis 13 in Schöneberg ist jetzt im Rohbau vollständig fertig und gehört zu den imposantesten Gebäuden, die in der letzten Zeit in Berlin und Umgebung errichtet worden sind. Er besteht aus einem Mittelgebäude, das hinter der Baufluchtlinie liegt, und zwei Seitenflügeln. Der dazwischen liegende Raum wird durch eine Säulenhalle von der Straße abgegrenzt und mit Schmuckanlagen versehen werden. Der südliche Flügel wird von einem Turm gekrönt, dessen Ausschmückung wie die einzelnen Teile der Fassade auf die Bedeutung des Gebäudes hinweisen. In einem der großen Hauptsäle wird eine große Orgel aufgestellt werden. Die große Landesloge der Freimaurer von Deutschland ist im Jahr 1770 gestiftet worden und somit die drittälteste Loge Berlins, wo sie nicht weniger als acht Tochterlogen besitzt. Die älteste Berliner Loge ist die „Zu den drei Weltkugeln" in der Splittgerbergasse 3 und hat fünf hiesige Tochterlogen.
Falko Hennig

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  Ausgabe 10 - 2000