scheinschlag-online - Ausgabe 10 - 2000
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Der dicke Heinrich für alle Lebenslagen

Dienstleistungsangebote, die vor kurzem noch keiner vermisste

1000 und eine Geschäftsidee aus dem Hermann-Nortrop-Verlag ist der Renner auf dem Ratgebermarkt. Die wiederbelebten Erdgeschosszonen füllen sich mit Existenzgründern, die in der Bugwelle der aufschäumenden Dienstleistungsgesellschaft mitschwimmen. Drei beispielgebende Existenzgründungen zeigen, dass die Kreativität keine Grenzen kennt.

Das vom Pizza-Bringdienst bekannte Konzept hat der findige Unternehmer Andreas Müller-Prignitz auf die gute alte Stulle übertragen. „Call-a-Stulle" reüssiert besonders bei den Bürobediensteten in der Neuen Mitte, die kalte und pappige Pizzen leid sind. „Wer mit der Stullendose zur Arbeit kommt, gilt leicht als hausbacken, aber wer sich Brote schmieren und bringen lässt, liegt im Ess-Trend der Zeit", erläutert Geschäftsführer Müller-Prignitz. 18 verschiedene Brotsorten werden von 7 bis 15 Uhr belegt, die ihren Weg zu den Kunden auf knallroten Vespas finden, damit der Leckerbissen nicht im Stau stecken bleibt. Derzeitiger Favorit ist der „Dicke Heinrich": Bauernbrot mit Mettwurst und Zwiebeln.

Wer sich von der Stulle zu höheren kulinarischen Weihen vorarbeiten will, ist bei der Gourmetberatung an der richtigen Adresse. Ein „außergewöhnliches Essvergnügen in feiner Atmosphäre bei Kunst und Kerzenschein" verspricht der große Hinweiszettel. Ein Tisch, von bequemen Stühlen umgeben, wartet auf die Teilnehmer dieses Lehrgangs für gutes Benehmen und guten Geschmack im Schaufenster der Erdgeschosswohnung. Die Grundbegriffe „Gabel in die Linke und und die Serviette benutzen, bevor man das Weinglas zum Munde führt", werden stillschweigend vorausgesetzt. Es geht eher um das Große und Ganze, das Zusammenspiel von Geist und Genuss: Geschmacksbildung als Rundum-Paket für alle Lebenslagen ist das Ziel der Bildungsmaßnahme. Was sich im Einkaufsverhalten für den Privathaushalt schon seit längerem abzeichnet - die Feinkostgeschäfte werden spätestens samstags zur Pilgerstätte der Business-people - wird nun auch in erweiterter, halböffentlicher Runde konsumierbar. Mit dem Slogan „Rendezvous am Herd" sollen nicht zuletzt auch die Singles als Klientel erschlossen werden. Dem nächsten geselligen Beisammensein im gehobenen Freundeskreis, wo die diversen Weinlagen kenntnisreich rezitiert werden, können Er und Sie gelassen entgegensehen. Gelernt ist eben gelernt.

Ganz der öffentlichen Reputation hat sich das Angebot des profan daherkommenden Angebot eines „Grußkurses" verschrieben. Im Zuge der Hauptstadtwerdung hat sich wiederholt gezeigt, dass die Staatsgäste noch nicht dem internationalen Standard entsprechend willkommen geheißen werden. Passanten stehen eher linkisch an Straßenkreuzungen herum und werden geradezu überrascht von einer Kolonne schwarzer Limousinen. Während die englische Königin eine Meisterschaft des dezenten, huldvollen Winkens zelebriert, fragt der Berliner hektisch desorientiert den nächsten Passanten „Wer warn das!" - oder echauffiert sich durch exzessives Armschwenken. Das wohltemperierte Mittelmaß wird in diesem Kurs gelernt. Sobald die weißen Mäuse auftauchen, heißt es, selbstbewusst die Republik zu vertreten, die rechte Hand in Kinnhöhe zu heben und leicht nach recht und links zu bewegen. Ein angedeutetes Lächeln erhöht dabei die positive Stimmung. Eigentlich eine Binsenweisheit, aber die Hauptstadt steckt halt noch in den Kinderschuhen.

Konstanze von Zitzewitz

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