Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Bauen, Nageln, Denken: Die Brettertown in der Lücke

Der Abenteuerspielplatz „Kinderstadt" in der Alten Schönhauser Straße

Wer träumt nicht von der eigenen Hütte? Nietzsche hatte seine ideelle Hundehütte in den Schweizer Bergen und jeder Kindertraum hat seine Baumhütte oder seine Bude, Butze oder Kartonage, um Heimliches zu tun und unbeobachtet zu sein.

In den europäischen Metropolen scheint dieser Rückzugsraum gelegentlich noch in den Geheimnissen von vereinsamten Kiosken, Bierhallen, verlassenen Bahnhäuschen und vergessen geglaubten Behausungen seinen Traumschlaf weiterzuleben.

Die Berliner Innenstadt hingegen, durch ihren modischen Anstrich zur Neuen Mitte stilisiert, ist verarmt an solchen urbanen Rückzugsräumen. Durch die Entkernungs- und Entrümpelungsmaßnahmen ist zwar ein einheitlich begehbarer Innenstadtparcours entstanden, der Museen, Kulturtempel und Innenhöfe miteinander verbindet, und stadtplanungstechnisch mit dem Slogan „Follow me" beschildert werden könnte, aber der Charme des Unentdeckten oder Vorgefundenen ist seitdem auf dem Rückzug. Die Struktur von Zufällen und Improvisationen, die unmerklich eine Durchmischung und Symbiose mit dem Vorhandenen eingeht, steht im krassen Gegensatz zu dem Tun der Macher und Planer und ihren Metropolis-Fantasien: Durchgeplant und fertiggebaut wird diese Baustelle Berlin; selber bauen oder freiräumen darf hier kaum jemand mehr ohne Anweisung oder behördliche Genehmigung. Eine Freifläche nach der anderen, jedes jahrezehntelang gehütete Trümmergrundstück, vom Zufall der Zeit bepflanzt, vermüllt oder privatheimlich genutzt, verschwindet endgültig.

Der Nagel als Währung

Gerät der Passant in Berlin-Mitte hingegen von der Neuen Schönhauser Straße, in der tatsächlich fast alles schön neu ist, in die Alte Schönhauser Straße auf das Gelände des Abenteuerspielplatzes „Kinderstadt", so tritt er nicht nur in eine andere Beschaffenheit von Stadtraum ein, sondern er trifft auch auf ein anderes soziales Gefüge mit eigener Währung und Zahlungsmitteln, mit welchen er in der Außenwelt nur Wandgemälde oder Fotos befestigen könnte.

Der Nagel ist hier das „Ein und Alles", das Zusammenhaltende schlechthin: Der Nagel als Schlüssel zum Bauen. Der Nagel als Währung fürs Essen. Der Nagel als Tauschobjekt der Begierde nach Holzbauten. Den Nagel kennt hier jeder, und selbst schwarze Konten sind hier erlaubt. Was der Nagel einzig nicht darf, ist krumm und schief herausstehen, sich dem Besucher sozusagen schlichtweg in den Weg stellen.

Aber das ist nicht das einzige, was diesen Freiraum von seinem städtischen Umfeld unterscheidet. Es sind zunächst die Bewohner und Nutzer dieses Ortes, die nun hier seit fast zwei Jahren aus Bauholzresten ihre Stadt im Kleinen anlegen und sie seit neuestem mit einer Art Brücke über ihre Piazzetta überspannt haben, die aus dem Rahmen des Üblichen herausfällt. Ein Abenteuerspielplatz, Kinder (6 bis 14 Jahre) sind seine Hausbesitzer, betreut von dem innerstädtischen Kulturverein „kommunArt e.V.", dem Kinder- und Jugendbüro Mitte und seinen pädagogischen Mitarbeitern und ABM-Kräften. In den Holzfassaden der selbsternannten „Nagelrepublik" wird aber nicht nur Kinderträumen nachgesponnen, sondern auch handfest geplant, gefeilt und auch protestiert gegen Schließungspläne durch Sparzwänge des Senats. Die unsichere Verpachtungssituation gegenüber dem Bezirk und der Erbengemeinschaft, die den Fortbestand des Ortes immer wieder gefährdet, verunsichert die Nutzer auch weiterhin.

Improvisierte Insel

Auf dem Abenteuerspielplatz ist das Leben und Bauen ein Spiel von Entwürfen und Gegenentwürfen, ein poetisches Gruppieren von nützlichen und privatheimlichen Bauten für die Bewohner dieses Platzes. Dabei werden sie von Pädagogen angeleitet und motiviert, eine „Stadt im Kleinen" zu entwerfen. Neben den Hüttenbauprojekten sind Fahrrad- und Holzwerkstatt, Streichelzoo, Feuerstätte und Gemeinschaftsräume (für die Kinderversammlung, Kinderdisco, Kochen und Töpfern) entstanden. Für die Mädchen gibt es speziell in der Woche einen Tag mit Angeboten und einen Bauwagen als Rückzugs- und Gestaltungsraum. In den Sommermonaten sind Ausflüge, Hausbau- und Sägewettbewerbe die Attraktion. Aus den letztjährigen Protestaktionen heraus, die zusammen mit der „Akib", dem Dachverband der Abenteuerspielplätze, organisiert wurden, entstand auch eine Struktur von einzelnen „Kinderparteien", die basisdemokratisch über die Belange in der Kinderversammlung des Geländes mitentscheiden konnten.

Dieses Spiel im Freiraum einer sich stark verändernden Stadt wird in Relation zu seinem Umfeld zu einer Art „Insel" - bebaut mit selbstkonstruierten Holzhäusern, die sich in ihrer Improvisation wie poetische Metaphern für einen anderen Umgang mit Architektur und Stadplanung buchstabieren lassen. Das Temporäre und Imaginäre vom Hausbau schwingt noch in diesem Hämmern und Werkeln mit. Gebilde und Gegengebilde, Eckpfosten und Nagelschelle gehen handwerklichen Phantasien nach, die sich jedoch unter Kinderhänden dann doch zu überraschenden und abenteuerlich konstruierten Bauten formen.

Atmosphärische Schwankung

Vorsicht allerdings vor zu großer Schwärmerei, denn die Eigendynamik solcher Orte lebt aus ihrem kreativen Potenzial, das schnell verplant und verbraucht sein kann, oder durch äußere Umstände und Finanzierungsprobleme stets gefährdet bleibt. Die Veränderungen und das Erscheinungsbild, das sich somit dem wechselnden Interesse der Kinder und ihrer Bautätigkeit unterwirft und stark vom Wetter und den Jahreszeiten abhängig ist, lassen sich in der Nutzung der Hütten und anhand der jeweiligen Baustellen ablesen. So sind das Erscheinungsbild und die Atmosphäre starken Schwankungen unterworfen und verschieben sich oft von einer Woche zur anderen oder bleiben wochenlang gleich. Im Lauf der Zeit allerdings entstand eine kleine Ansiedlung auf dem ehemaligen Trümmergrundstück, die wie eine „Berliner-Eingeborenensiedlung" einen Rückzugsraum bietet vor den immer näher rückenden Baugerüsten der näheren Umgebung.

Vom „Lob der Lücke" könnte man so sprechen, deren Möglichkeitssinn im labilen und phantasievollen Wachsen einer Holzsiedlung liegt. Von der Leere des Trümmergrundstücks wächst so aus der Lücke die Gabe der halbfertigen Zwischenbauten, die wie Fragmente aus einer anderen Zeit des Bauens anmuten.

In der Lücke zeigt der Spielplatz sein authentisches Gesicht vom steten Werden und Vergehen und bildet so den besonderen Reiz seiner prozesshaften Verwandlungen heraus. Eine freie Struktur findet sich wieder, die woanders schon schmerzlich vermisst wird. Die wahren Geheimnisse des Platzes hingegen finden in den Lücken der Bretter, im Dunkeln der Hütten und in den Gesprächen ihrer Erbauer statt.

Paul Stefanowske

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 10 - 2000