Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
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Die Straße der Mitte

Die Köthener Straße am Potsdamer Platz verliert ihr Gesicht

Hier wird nicht gebaut. Hier wird eine Gegend von den Füßen auf den Kopf gestellt. Wohin das Auge blickt, liegen Betonrohre, Bretter, Bauschutt. Die Trommeln grüner Betontransporter drehen sich. Pumpen pressen den flüssigen Beton laut dröhnend hinauf auf ein Stahlgerippe - am Rand der Köthener Straße entstehen Wände so hoch wie Festungsmauern. Es sind die Ausläufer des benachbarten Potsdamer Platzes. Gitterzäune versperren den Weg, die verbogenen Straßenlaternen arbeiten schon lange nicht mehr. Fußgänger stolpern über Schläuche, Kabel und Kieshaufen. Die Köthener Straße ist eine Straße im Bauzustand.

Sie verbindet die Stresemannstraße mit dem Reichpietschufer. Wer vom Abgeordnetenhaus mit dem Auto in Richtung Westen eine Ampel sparen will, fährt hier hindurch. Und wer mit der Hochbahn vom Gleisdreieck zum Potsdamer Platz unterwegs ist, sieht einige Autos, die um tiefe Schlaglöcher und Zementsäcke herumkurven, um eine Ampel zu sparen.

Zwischen zwei Welten

Die Köthener Straße trennt zwei Welten. Die Grenze zwischen Kreuzberg und Tiergarten verliefe auf dem Mittelstreifen, wenn es denn einen gäbe. Sie trennt das alte vom „Neuen" Berlin. Der eine Teil will Ruhe, im anderen werden aus einer modernistischen Weltanschauung heraus Glaspaläste geklotzt. In der Köthener Straße ist es nur ein Hochhaus, das rund einen Viertelkilometer lang ist. Vier Stockwerke hoch, sollte es ursprünglich sanft überleiten vom alten Kreuzberg zum neuen Potsdamer Platz. Auch eine Verbindungsstraße zum Platz war vorgesehen. Bis die Immobiliengesellschaft von DaimlerChrysler ausgerechnet haben soll, dass sich damit kein Gewinn hätte machen lassen.

Nun entsteht eine achtstöckige Häuserwand. Keine Verbindungsweg zu der bereits fertigen Luxus-Siedlung am Potsdamer Platz ist zu sehen. Überall Staub, Schutt, Schmutz. Der Gehweg der Köthener Straße ist aus Platten zusammengefügt, die woanders gerade übrig gewesen scheinen. Hammerschläge erschallen, eine Ramme lässt den Boden beben. Arbeiter schieben Schubkarren durch den Sand. In dieser Straße leben Menschen.

Gegenüber der Großbaustelle steht ein beigefarbenes Haus, sozialer Wohnungsbau aus den Achtzigern. „Hier wohnen viele Türken, Polen und Russlanddeutsche", sagt Jakob Trepel, Hausmeister dieses Blocks. „Und einige Rentner, denen ein Umzug zu anstrengend war." Nebenan ist ein Heim für Asylbewerber. Kinder spielen im Hof. Hier lebt nur noch, wer woanders nicht untergekommen ist. Den woanders keiner haben wollte. Oder wer nicht rechtzeitig den Absprung schaffte.

Die Übriggebliebenen

„Es ist hier nie ruhig", sagt Caner Demir. Und wenn es einmal ruhig ist, erinnern ihn die Risse in seiner Wohnzimmerwand an den entstehenden Wohnblock. Seine Familie wohnt im beigefarbenen Haus, und alle zehn Minuten schwenkt ein Kranarm genau über den Balkon. Caner Demir wartet nur darauf, dass einmal eine Tonne Mörtel in seinem Vorgarten landet.

1998 zogen die Bewohner durch die Köthener Straße, trugen Transparente und klebten Plakate. Die Bürgerinitiative gegen Baulärm setzte durch, dass nachts die Bagger still standen, die Betonmischer und das Flutlicht ausgeschaltet wurden. Die meisten Demonstranten wohnen trotzdem heute woanders. „In den letzten fünf Jahren zog die Hälfte der Mieter aus", sagt Jakob Trepel. „Wegen der Bauerei." Im beigefarbenen Haus stehen vier große Wohnungen leer.

Auch Caner Demir würde mit seiner Familie lieber wegziehen. Das Problem dabei ist das Geld. Das Arbeitsamt finanziert den Umzug nicht, für den sein eigenes Geld nicht reicht. Seit eineinhalb Jahren bekommt er Hilfe vom Amt, seitdem er in seinem Textilbetrieb nicht mehr gebraucht wurde. Caner Demir geht gern hinüber in die „Potsdamer Platz Arkaden", das neue Einkaufszentrum. Dort kauft er im Aldi ein. Mit seinen drei Kindern aß er auch schon Eis und ging ins Kino. „Der Potsdamer Platz gefällt mir", sagt er. Die einen schauen hinauf, die anderen nicht hinab.

Eine Frau mit Kinderwagen geht an einem Stapel halbrunder Betonprofile vorbei. Arbeiter haben ihre Jacken an einem Verkehrsschild aufgehängt, lehnen am Bagger, machen eine Pause. Ein Presslufthammer donnert los. Caner Demir rechnet damit, dass die Miete in seinem Haus steigen wird, wenn der Baukran nicht mehr über dem Balkon schwebt. Doch das sei nicht das Schlimmste. „Wer zahlt unsere Nerven bis dahin?"

Christian Domnitz

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