Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
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Lokal, regional... und europäisch

Konzepte- und Projektefieber für die Armutsregion Groß-Mitte

„Wunderschöne 3-Zimmer-Wohnung in Mitte mit Blick auf den Humboldthain zu vermieten." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn die inserierte Neubauwohnung befand sich auf dem ehemaligen Siemens/Nixdorfgelände an der Brunnenstraße, und dieser Teil gehörte im März 2000 noch eindeutig zum Bezirk Wedding. Aber tatsächlich kann man von dort den Fernsehturm gut sehen. Der Zusatz „Mitte" war das Lockmittel, um Mietinteressenten anzuziehen.

Was im Maklergewerbe funktioniert, bewährt sich auch anderswo. So wurde es bei der Bezirksreform als genialer Coup gewertet, dass der Weddinger Bezirksbürgermeister Hans Nisblé es geschafft hatte, nicht mit dem ärmlichen Prenzlauer Berg sowas wie einen Zwilling an die Seite gestellt zu bekommen, sondern durch den Zusammenschluss mit dem Bezirk Mitte saß man mit einem vielversprechenden Fusionspartner in einem Boot, in dem außerdem noch der Stadtteil Tiergarten Platz gefunden hatte. Der neue Name des Bezirks konnte dann auch gar nicht anders lauten als „Mitte".

Statistik und Kosmetik

Die unterschiedlichen Ausgangslagen bedeuten in Zukunft für jeden Fusionspartner eine Veränderung der bis dahin üblichen Selbstdarstellung und Wahrnehmung. In dem Vereinigungsprozess wurden die jeweiligen eigenen Stärken und Schwächen immer wieder in die Diskussionen geschickt. Statistiker bestritten Vergleichsschlachten: Wer hat die meisten Sozialhilfeempfänger, wieviele Arbeitslose bringt jeder Bezirk ein, wer gibt wieviel Geld für Kultur aus, wo ist die Bevölkerung jung, wo leben die Rentner, wo die Ausländer, welche Arbeitsplätze bietet wer. Ballast und Auftrieb wurden analysiert. Zusätzlich fusionieren hier ein Ost- mit zwei Westbezirken, ein offensichtlich immer noch problematisches Unterfangen. Gleichzeitig geht es um Einsparungen: Zum einen konkret durch die Reduzierung der Bezirksposten sowie der -ämter, zum anderen überlagert der generelle Sparkurs des Senats die Vereinigung. Wer geschickt agierte, hat die letzten Verteilungskämpfe, die meist den Standort von Institutionen betraf, noch in den alten Bezirksgrenzen gewonnen.

Die Zusammenlegung der Bezirke hat unter anderem dazu geführt, dass sich nun das größte Sozialamt Deutschlands in der Müllerstraße befinden wird. Bisher hatte Neukölln dieses „Privileg" und wird über den Verlust heilfroh sein, obwohl es keinen einzigen Sozialhilfeempfänger weniger haben wird. Auch die Arbeitslosenzahlen könnten je nach Perspektive als besser oder schlechter bewertet werden: Während Mitte bisher mit einer Quote von 11,8 Prozent weit unter den Quoten in den Stadtteilen Tiergarten mit 20,1 Prozent und Wedding mit 23,2 Prozent lag, ergibt sich im Durchschnitt für alle nun eine Quote von 18,4 Prozent. Aber der Vergleich mit den nächsten Nachbarn ist viel zu kurz gezogen, denn die Arbeitslosenzahlen sind insgesamt eine Katastrophe. Trotz des Statusbonus „Hauptstadtbezirk" ist man mittlerweile in
das Strukturförderungskonzept „Berlin-Brandenburg als Modellregion der Europäischen Beschäftigungsstrategie" geraten und findet sich auf einer Ebene mit nordgriechische Schafzüchterregionen wieder - überspitzt gesagt.

Programme, Leitlinien
und Bündnisse

Die Bezirksfusion geht nahezu zeitgleich einher mit einer Reform des Europäischen Sozialfonds (ESF) in der Förderperiode 2000 bis 2006. Der ESF wurde dadurch zum wichtigsten europäischen Instrument zur Förderung von Beschäftigungspolitik, der die Schaffung wettbewerbsfähiger Regionen als wesentliche Aufgabe bezeichnet und in seinen „Beschäftigungspolitischen Leitlinien" auf die „Schaffung von Arbeitsplätzen auf der lokalen Ebene" abzielt. Auf dieser Grundlage hat Arbeitssenatorin Schöttler die Förderstrategie „Bezirkliche Beschäftigungsbündnisse" entwickelt, die sich an den arbeitsmarktpolitischen Problemlagen in den Kiezen und Quartieren orientieren soll. Kürzlich ist dieser Ansatz im neuen Großbezirk auf lokaler Ebene angekommen.

Die Auftaktveranstaltung zum „Bezirklichen Beschäftigungsbündnis für den zukünftigen Bezirk Mitte" fand Anfang Oktober statt, auf der das Konzept und die Organisationsstruktur den eigentlichen Akteuren vor Ort vorgestellt und vor allem zur Einreichung von Projektvorschlägen aufgefordert wurde. Ein wahrer Reigen an „Handlungsfeldern" wurde definiert: „Ausbildungsmaßnahmen, Bildungs- und Qualifizierungsoffensive, Erhöhung der Beschäftigungschancen von benachteiligten Bevölkerungsgruppen, Wirtschaftsförderung, Verbesserung der Umweltbedingungen, Imagekampagne für den Standort Mitte, Attraktivitätssteigerung der bezirklichen Einkaufsmeilen sowie Förderung der Nahortversorgung, Verbesserung des Wohnumfeldes sowie Gesundheitsvorsorge."

Run auf die Töpfe

Zur Finanzierung sollen zum einen Gelder der Arbeitsmarktförderung des Landes, des Bundes und der Europäischen Union herangezogen werden. Die ergänzende Finanzierung durch Drittmittel soll auch durch die geldwerte Einstufung von ehrenamtlicher Selbsthilfe erbracht werden können. Zum anderen ist vorgesehen, Mittel der Wirtschaftsförderung und der Stadtentwicklung projektbezogen zum Einsatz zu bringen. Die beiden Vertreterinnen der Arbeitsämter Mitte und Nord wiesen aber auf der Veranstaltung unmissverständlich darauf hin, dass die Integration in den ersten Arbeitsmarkt bei der Mittelvergabe Vorrang habe. Im übrigen hofft man, dass bei bundesweit sinkender Arbeitslosenzahl auch Berlin demnächst endlich vom Aufschwung ergriffen wird.

Bei den bewilligten Projekten wird sich später zeigen, ob sie nur auf die frisch gefüllten Töpfe scharf waren und der Geldsegen in den oberen Pro-
jektetagen hängen bleibt. Viele Bildungsträger, die schlechte und unsinnige Arbeit leisten, überleben nur deswegen, weil ihnen die Arbeitslosen zugetrieben werden, damit diese für ein Jahr aus der Statistik verschwinden. Derjenige, der in einer IdA-Maßnahme steckt, muss sich als letztes Glied in der Kette immer mit dem Existenzminimum begnügen.

sas

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