Ausgabe 09 - 2000berliner stadtzeitung
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Immer noch: "Wir bleiben alle" in der Oderberger

Mit Verspätung wehren sich in der Oderberger Straße Mieter gegen Sanierungsfieber und Vertreibung

"Insolvente Computerspezialisten suchen Wohnung, Miete bis 1200 DM."- Solche Mietgesuche in Zettelform finden sich in der letzten Zeit häufiger an Laternen oder Kneipentafeln in der Oderberger Straße. Kein Zweifel, die Umstrukturierungswelle hat auch die Verbindungsstraße zum Wedding erreicht. Dabei sah es jahrelang so aus, als bliebe sie verschont. Während um den Kollwitzplatz die letzten "Normalverdiener" wegzogen, blühte in der Oderberger Straße bis Mitte der neunziger Jahre eine rege Initiativenkultur. Zum Beispiel verhinderten AnwohnerInnen mit einem zum Blumentopf umfunktionierten Trabi monatelang, dass die Straße mit hoher Geschwindigkeit befahren wird.

Die Zeit ist längst darüber hinweg gegangen. Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts entwickelte sich auch die Oderberger Straße mit Verspätung zur Kneipenmeile. Es wurde "in", jene Straße zu besuchen, der noch in den Medien nachsagt wurde, hier könne man noch DDR pur erleben und an den Tischen der damals noch überschaubaren Kneipenszenerie wäre bayerische oder schwäbische Mundart deutlich unterrepräsentiert.

Doch diese Ost-West-Klischees sind nicht die Probleme, die einige Bewohner der Oderberger Straße veranlasste, sich mal wieder an alte Bewegungsslogans zu erinnern. "Wir bleiben alle", hieß das Motto, das in den frühen Neunzigern zigtausende Menschen auf die Straße brachte. Die Abkürzung WBA zierte Mauerwände, Plakate und Flugblätter. Nur wenige wissen, dass die zeitweise erfolgreiche Aktion im Hinterzimmer einer Kneipe in der Oderberger Straße entstanden ist, im "Entweder Oder".

Zermürbung am Rande der Legalität

Es sind Bewohner der drei Häuser Oderberger Straße 21, 22 und 23, die sich jetzt zu wehren beginnen. Die Berliner MieterGemeinschaft wurde eingeschaltet, die Betroffenen beginnen sich untereinander zu koordinieren und lernen so auch die Verbindungen der Gegenseite kennen. Die Firma Michael Gröbler & Peter Rupp hat mindestens drei Häuser in der Straße aufgekauft. Die erste Sanierung ging für das Unternehmen erstaunlich glatt. Die Mieter waren innerhalb kürzester Zeit ausgezogen und in wenigen Monaten gab es ein luxussaniertes Haus mehr in der Straße.

Nun muss sich Gröbler auf Gegenwind einstellen und reagiert entsprechend sauer. Die Mieter berichten über Aktionen am Rande der Legalität, manchmal auch ein Stück darüber hinaus. Da werden Ankündigungsfristen nicht eingehalten, der Hof ist mit Baumaterial so zugestellt, dass die Mieter kaum durchkommen. Keller wurden aufgebrochen, Buttersäure im Treppenhaus ausgekippt, das Kabelfernsehen war für einige Wochen unterbrochen. Eine Kamera soll jetzt das Haus ständig im Blick haben. Die Mieter fühlen sich überwacht. Die Einzelheiten sind nicht spektakulär, aber in ihrer Gesamtheit für die Betroffenen zermürbend.

Obskure Brände

Schon vor Baubeginn lässt der Hausbesitzer Plastikklos mit der Aufschrift "Mietertoiletten" im Hof aufstellen. Der beabsichtigte Effekt tritt ein. Die ersten Mieter ziehen weg. In einer der leerstehende Wohnungen brach vor einigen Wochen aus ungeklärten Gründen ein Feuer aus. Der Schaden ist geringer als der Schrecken der Mieter. Der wird nicht kleiner, als sie erfahren, dass auch in einem von Gröbler gekauften Haus in der Buchholzer Straße Feuer ausgebrochen war. Die dortigen Mieter mussten daraufhin ausziehen. Heute ist das Haus saniert.

Dem will die Mieterinitiative in der Oderberger Straße vorbeugen. Auch wenn es im Jahr 2000 hoffnungslos anachronistisch erscheinen mag, formulieren diese Bewohner und Bewohnerinnen beharrlich die alten Forderungen, auch wenn sie im Zeitalter von Hauptstadtwahn und "Neues-Berlin"-Besoffenheit kaum jemand mehr zu stellen wagt: bezahlbarer Wohnraum für alle, keine Vertreibung von Leuten mit geringen Einkommen, Straßen sollen Wohnumfeld bleiben und nicht zum Erlebnispark für Alt- und Neureiche werden.

Peter Nowak

Für den 30. September plant die Initiative ab 16 Uhr ein Straßenfest vor den von Sanierung und Leerstand bedrohten Häusern der Oderberger 21, 22 und 23. Es wird Informationsstände, Veranstaltungen und Filme zum Thema Vertreibung und Umstrukturierung geben und bei Kaffee und Kuchen kann diskutiert werden, wie man sich dagegen wehren kann. Alle Interessierten- nicht nur aus oder Oderberger Straße- sind herzlich eingeladen.

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