Ausgabe 09 - 2000berliner stadtzeitung
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Jenseits von Lohn und Kapital

Die Workstation auf dem RAW-Gelände ist auf der Suche nach einem neuen Arbeitsbegriff

"Arbeit" ist ein Thema, auf das man die meisten Leute kaum ansprechen darf. Fall eins: "Hör auf, ich kriege Ausschlag. Das Sozialamt und meine ganze Familie sitzen mir schon damit im Nacken." Fall zwei: "Lass mich in Ruhe. Ich habe heute 14 Stunden vor dem Computer verbracht. Als ich nach Hause kam, lag da ein Zettel von meiner Freundin: Sie hat ihre Sachen ge- packtÉ" Eine sehr bizarre Situation: Während viele wegen ihrer Arbeitslosigkeit unter einem Gefühl des Scheiterns leiden, werden die menschlichen Ressourcen derer, die "es schaffen" mit einer Unerbittlichkeit ausgepresst, vor der noch Mutters effektive Obst- und Gemüseverwertung verblasst. Bei aller Unproduktivität im Ganzen ist der Druck, der auf den "Gewinnern" wie auf den "Verlierern" lastet, extrem hoch.

In Berlin spitzt sich die Lage zu. Die Stadt zieht Menschen an, die sehr hohe Ansprüche an ihr Leben haben. Mit einem Job kann nur ein Teil von ihnen versorgt werden. Ist es daher nicht zeitgemäß, sich mit Alternativen zur klassischen Arbeitsbiographie auseinander zu setzen?

Workstation- die Station nach der Arbeit

Auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW) nahe der Warschauer Brücke existiert ein Projekt, das sich mit dieser Frage befasst: Workstation. Ein irreführender Name, da dies eher die Station "nach der Arbeit" sein soll. Frauke Hehl ist seit zwei Jahren der Kopf der ungewöhnlichen Unternehmung. Sie sitzt mit angewinkelten Beinen am sogenannten "Strand", einem breitgetrampelten Sandhaufen vor dem alten Verwaltungsgebäude. "Es gibt in meinen Augen kein Problem der Arbeitslosigkeit, es gibt vielmehr ein Problem der Erwerbsgesellschaft", erklärt sie. "Einerseits werden immer weniger Arbeitskräfte gebraucht, andererseits wird an der klassischen Arbeit als Wert festgehalten." Ihrer Ansicht nach müsste für die heutige Gesellschaft ein neuer Begriff von Arbeit bzw. Tätigkeit entwickelt werden. "Im Moment aber blockiert eine Denksperre im Kopf der meisten Leute die Entstehung neuer Konzepte", meint die 32- Jährige.

Das ambitionierte Ziel des Projekts "Workstation" ist es einen gesellschaftlichen Bewusstseinsprozess anzuregen. Ein erster Schritt wäre, wenn die "Opfer der Arbeitsgesellschaft" mit einander ins Gespräch kämen: z.B. Arbeitslose und Menschen aus dem Hochlohnsektor mit Burnout-Syndrom. "Workstation" soll ein Forum dafür bieten.

Arbeit auf der Workstation

Und was geschieht tatsächlich bei Workstation? Am Tag meines ersten Besuchs sind zwei Leute auf dem Gelände, die am Projekt beteiligt sind: Frauke, die beklagt, dass bei Workstation immer noch zu viel von ihrem persönlichen Engagement abhängt, und eine junge Frau, die mit Feuereifer alte Fensterrahmen abschmirgelt. Jedesmal, wenn wir an ihren aufgebockten Fenstern vorbeikommen, erklärt sie stolz, was sie schon alles geschafft hat. Sie ist von der Jugendgerichtshilfe geschickt worden und leistet gerade Strafarbeitsstunden ab. "Ihre Stunden muss sie sowieso hinter sich bringen", rechtfertigt sich Frauke. "Hier steht ihr frei, was sie macht und sie lernt das Projekt kennen." Auch Kandidaten des Programms "Integration durch Arbeit" (IdA) werden an Workstation vermittelt. Frauke gibt als einzige Arbeitsanweisung, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was man aus dem eigenen Leben eigentlich machen will. Handwerklich gibt es auf dem Gelände zwar viel zu tun, die Mithilfe aber ist freiwillig.

Manche gelangen auch zu Workstation, weil sie von der Initiative gehört haben und interessiert sind, über Alternativkonzepte zum Erwerbsleben und die Kritik an der Arbeit zu diskutieren. Ein Treffen dazu findet regelmäßig am Dienstag statt. Meist kommen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und solche, die man sonst bei Tagungen ˆ la "Zukunft der Arbeit" antreffen kann. Die Opfer der Arbeitsgesellschaft aus dem Hochlohnsektor haben keine Zeit oder Berührungsängste. Manche von ihnen haben jedoch schon per e-mail oder Telefon Kontakt zur Workstation aufgenommen. Infolge solch eines Ferngedankenaustauschs soll auch schon mal jemand stolz berichtet haben, er habe nun endlich seine Arbeitsstunden reduziert.

Kräuter überwuchern Mahnmale der Arbeit

Wenn die Leute von Workstation gerade nicht diskutieren, sitzen sie entweder mit einer Tasse Kaffee "am Strand" oder sie werkeln auf dem RAW-Gelände herum- ein Platz, auf dem bestimmt in zehn Jahren noch genug herumzuwerkeln bleibt. Workstation ist in seiner Bizarrheit den Paradoxien der Arbeitsgesellschaft sicherlich ebenbürtig. Eines aber muss man anerkennen: Es hätte kein besserer Ort gefunden werden können, um die Arbeitsgesellschaft infrage zu stellen. Das ehemalige Reichsbahnausbesserungswerk liegt in einer riesigen Industriebrache mitten in der Stadt. Rechts und links der Bahngeleise verrotten hier die Mahnmale der "klassischen" Arbeit. Hallen, Höfe und Sandflächen werden langsam von Bäumen und Kräutern zurückerobert.

Tina Veihelmann

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