Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen: Kurz und gut

Singles gehören zu der vom Aussterben bedrohten Spezies. Ein sicheres Reservat haben sie allerdings in DJ- und Sammlerkreisen gefunden. Der normale Musikhörer - die geneigte Musikkäuferin brauchen eigentlich keine 4 bis 7 Variationen ein und des selben Songs. Nicht nur aus Gründen des Artenschutz hier drei Empfehlungen:

Ein nicht zu vernachlässigendes Kaufargument für den ersten Tonträger: Es gibt ihn nur als Single und nur auf Vinyl. Kein Album in Sicht. Unter dem schönen Titel emphasolo (a-musik) startet das Berliner Kleinstlabel emphase-records mit einer sogenannten Split-Single-Reihe. Alle Künstler und Bands, die hier veröffentlichen, erfüllen formal zwei Vorgaben: 1. steht ihnen nur eine Seite der Single zur Verfügung und 2. darf nur ein Instrument zum Einsatz kommen. Kleines Feld für ein großes Spiel. Natürlich darf/soll/ muss dieses eine Instrument eine Vielzahl von Behandlungen über sich ergehen lassen. Zerren, stauchen, verfremden, komprimieren, schichten. Die erste Veröffentlichung teilen sich Miniklon und F.S.:Blumm. Beides Berliner Projekte und beide huldigen dem kontemplativen Element. Während F.S.: Blumm mit dem Stück 6 Mbiras auf dem Marimbaphon an dem Seriellen arbeitet, wird aus der Orgel bei Farfisa 1,5 fast schon eine Art Techno-Track mit hintergründigen Beats. Beide erreichen ihre Qualität aus dem schlichten Moment der Wiederholung und den sich darin aufbauenenden Obertönen. Wunderschön. Getrübt wird das Vergnügen nur durch die nichtvorhandene Repeatfunktion an meinem Plattenspieler.

Längst zum heimlichen Sommerhit avanciert, ist "Wir trafen uns in einem Garten". Eigentlich nur als Werbesong für die in der Bugwelle von Sonnenallee und Helden wie wir schwimmenden Cabinetwerbung gedacht, entwickelte der Song von 2-Raum-Wohnung (BMG) eine seltsame Eigendynamik. Werbespot und Song bohrten sich geradezu idealtypisch in das Lebensgefühl vor allem der Ostberliner. Das ist schon über ein Jahr her. Dann kam das Ding in Form von selbstgebrannten Kopien zum Einsatz bei Radio Eins. Und alle wollten wissen: Wo gibt´s die zu kaufen? Gar nicht. Denn die Auftragsarbeit eingereicht bei Inga Humpe (ja, die von Neonbabies und DÖF) und Tommi Eckhard (früher bei Andreas Dorau) war nie zur Veröffentlichung vorgesehen. Und ein wenig peinlich war es den ehemaligen NDW-Musikern dann wohl auch - so kommerziell und nur mit Gitarre und Schlagzeug. Jetzt gibt es die Single doch im Laden und, ganz in Retro-NDW-Manier, auch mit vier elektronischen Versionen. Und da es bis zum angekündigten Album noch dauern wird, muss, wer sich an der Radiorotation noch nicht sattgehört hat, auf die Single zurückgreifen.

Dass Freiburg ein seltsames Gebilde ökologischer Kleinstadtträume ist, wussten Tocotronic schon 1994. Martin Gretchmann von Console hat sich nun aufgemacht, die Gitarrenhymne ins Zeitalter der elektronischen Kommunikation herüberzuretten. In insgesamt sieben Versionen ist mit Freiburg V3.0 (L´Age d´Or) der adäquate Abgesang auf das Internet gelungen. Denn während Dirk von Lowtzow 1994 noch "Und ihr demonstriert Verbrüderung" sang, bringt jetzt eine Computerstimme die Scheinheiligkeit von Pseudogemeinsamtkeit im Netz auf den Punkt "And you demonstrate community". Und wenn nun eine ganze Stadt oder das Global-Village Konsensbildung und Gemeinsamkeit zum obersten Gebot der Glückseligkeit erheben, dann wird Alleinsein wieder zum individualistischen Hochgenuss.

Marcus Peter

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