Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Nächster Halt Sahara: Berlins Bahnhöfe sind Zukunft

Dort, wo jetzt über den zukünftigen Bahnsteigen die Betondecke geschlossen wurde und dort, wo ein neues weißes Vordach der zukünftigen Bahnhofshalle pompös auf den Vorplatz weist, entstehen neue städtebauliche Besonderheiten, die einzigartig in Europa sein werden: Zentralbahnhöfe, die entgegen ihrer Namen wie Inseln im Nichts liegen. Während andere europäische Metropolen ihren Bahnreisenden das Erlebnis einer immer stärker werdenden städtebaulichen Verdichtung verschaffen, die in der Regel zu einer, wenn auch tristen, Architektur des Überganges in die Stadt führt: ein pompöser Platz, der schon bessere Tage gesehen hatte, oder, in den unsäglichen Fußgängerzonen westdeutscher Großstädte, einer mit Billigläden verstopften unterirdischen Passage, die zum Zentrum oder einem Verkehrsknotenpunkt führen mag. In dem neuen Berlin wird die gewohnheitsmäßige Lesart der vertrauten und mittlerweile verkommenen

Urbanität nicht gelten. Wer als Fremder ankommen wird und aussteigt, wird Schwierigkeiten haben, Berlin zu finden. Draußen ist eine vielleicht eine Autostraße, etwas Sand, Bauzäune und die Weite des unverbauten Himmels. Sonst nichts.

Schon die DDR hatte mit ihrem Hauptbahnhof im herkömmlichen Sinne ein städtebauliches Fiasko geschaffen - eine Bahnhofshalle, deren Schauseite auf eine vierspurige Straße weist, die zwischen Mauer und Fabrikbrachen verlief - mehr als vieles andere war diese absurde Situation poetische Chiffre einer Epoche. Ein Vorplatz, der seine Gäste mit der Mauer und Hafenkränen, also dem physische Ende der damaligen Welt empfing - was für eine Erzählung muteten die Stadtplaner den Bahnreisenden zu, moderner als alles, was denn gedruckt wurde, weil die zuerst wahrgenommene Realitäten für die Ankommenden schlichtweg Grenze und nicht dechiffrierbare Ferne war. Die Stadt als Symbol eines geordneten und einheitlichen Universums ist nicht da. Präziser konnte man hier die Moderne, mit ihren Nicht-Orten und den fehlenden Übergängen, die eine Brücke zwischen Innen und Außen bilden, nicht beschreiben - ungewollt war große Kunst geschaffen worden.

Auch der neue Lehrter Zentralbahnhof wird kein Entrée in die Stadt im herkömmlichen Sinne bilden, sondern einen Ort der Passage, der wie Flughäfen eine transitorische Zwischenzone bildet: aus Geldmangel will die Deutsche Bahn AG auf die den Bahnhof flankierenden Bürobauten verzichten. Ein klandestines Eingeständnis einer massiven Fehlplanung. Das Stadtviertel, was den Bahnhof umgeben sollte, wird nicht so bald entstehen. Wer ab 2005 aussteigt, wird irgendwo ein Tunnelende sehen, Bäume, Sand, Bauzäune und in der Ferne monströse Regierungsbauten.

Den Bahnhof zu verlassen wird sinnlos sein, die U-Bahn, die zu ihm führen sollte, ist für das Land Berlin unbezahlbar - die viel zu üppigen Planungen der Bahn haben zu einer Architektur der Leere und der Diskontinuität geführt, die mehr von Afrika und den USA, mehr von den Sprüngen und Brüchen im Leben, die mehr von der zentrumslosen Agglomeration als von der zentrierten Metropole erzählen wird - Berlin, ohne Zweifel, ist erneut Avantgarde, nicht in den überambitionierten Planungen seiner grotesk unfähigen politischen Klasse, sondern in dem Scheitern dieser Entwürfe. Kohlhaas hatte von der Metropole der Zukunft geschrieben, dem Brei ohne Zentrum, mit lokalen Verdichtungen und dem immer wiederkehrenden Recycling des Immergleichen: Wer am Lehrter Bahnhof aussteigen wird, wird in der Zukunft gelandet sein.
Götz Müller-Zimmermann

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