Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Unheimliche Allianzen

Seit dem Bericht der Wehrstrukturkommission wird das alte Tabuthema Abschaffung der Wehrpflicht neu diskutiert. Die Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär kämpft für das gleiche Ziel - aber mit ganz anderen Absichten

Die Experten der Wehrstrukturkommission sprachen es aus: Die vorgeschlagene drastische Verkleinerung der Bundeswehr hätte "den Übergang auf ein reines Freiwilligensystem nahegelegt". So weit wollte die Kommission unter ihrem Vorsitzenden Richard von Weizsäcker dann doch nicht gehen. Sie schlug wenigstens 30 000 Wehrpflichtige pro Jahrgang vor. Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping hält das für "politisch und gesellschaftlich nicht durchsetzbar" - er fürchtet wohl den Unmut der wenigen Rekruten und ihrer Familien, die es dann noch trifft. Die letzten Zahlen aus seinem Haus liegen nun bei 77000 Wehrpflichtigen. Grünen-Fraktionschef Rezzo Schlauch ist sich trotzdem sicher: "Es läuft doch alles darauf hinaus, dass wir in vier oder fünf Jahren die Wehrpflicht nicht mehr haben".

Im neuen Büro der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär in Prenzlauer Berg wird all dies mit gemischten Gefühlen registriert. Die Abschaffung der Wehrpflicht werde eben nicht aus ethischen Gründen erwogen, so Christian Herz, einer der beiden Sprecher der Kampagne, sondern aus rein pragmatischen: Es gehe um den Umbau der Bundeswehr in eine Interventionsarmee.

"Außerdem ist es schwerer, eine Wehrpflichtarmee international einzusetzen - weil auf jeden Wehrpflichtigen zwei Elternteile und vier Großeltern schauen und von der Notwendigkeit eines Einsatzes überzeugt werden wollen." (Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Spiegel-Interview vom 29.5.)

Verteidigungsminister Scharping erklärte in einem Interview auf die Frage nach den Erfahrungen aus dem Kosovo-Krieg dann auch: "Wir sind nicht voll bündnisfähig." Und als die Interviewer wissen wollten, woher die von der Kommission geforderten zwölf Milliarden Mark im Jahr für neue Ausrüstung kommen sollten - und das auf zehn Jahre - antwortete Scharping: "Die Bundeswehr wird kleiner werden; das senkt Personalkosten." Die Rüstungsindustrie vernimmt´s mit Freude - sie verdient besser an Waffen als an vielen Wehrpflichtigen.

So vertritt die DaimlerChrysler Aerospace (Dasa) auf einmal ein ähnliches Ziel wie die Kampagne - eine "unheimliche Allianz" für den Totalverweigerer Herz, der sich seit 1977 gegen die Bundeswehr, aber auch den Militarismus in der Gesellschaft engagiert. Er ist sich im Übrigen sicher, dass es sowieso keine Abschaffung der Wehrpflicht geben wird, sondern höchstens eine Aussetzung - mit der Möglichkeit der jederzeitigen Wiederherstellung. Dennoch würden auch damit Ziele der Kampagne erreicht. Eine Aussetzung der Wehrpflicht würde der "negativen Männlichwerdung der Gesellschaft" entgegenwirken, so der Politikwissenschaftler Herz.

"Mit Hinblick auf die wehrtechnische Sparte unserer Industrie, die uns große Sorgen macht, begrüßen wir ausdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung, die Bundeswehr auf ihre zukünftigen Aufgaben hin auszurichten und zu modernisieren" (Gustav Humbert, Chef der Dasa Hamburg und Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Raum- und Luftfahrtindustrie; Tagesspiegel-Interview vom 4.6.)

Vermännlichung der Gesellschaft meint, so Rolf Siemens, auch Politikwissen-schaftler und der zweite Sprecher der Kampagne, das Handeln und Denken in autoritären Strukturen. Autorität und Gewalt machten das traditionelle Männlichkeitsbild aus. Die Bundeswehr sei eine autoritäre, hierarchische Organisation. Das Indiviuum, das sich in der zivilen Gesellschaft oft als schwach erlebe, würde in der Bundeswehr Teil einer starken Gemeinschaft und empfinde sich damit selbst als stark (Bundeswehr-Werbung: "Eine starke Truppe"). Konfliktlösungen in der Armee aber sind bestimmt durch Unterordnung und Gewalt. Genau diese erlernte "negative Männlichkeit" nehmen die Rekruten wieder mit ins zivile Leben, mit all ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Rolf Siemens ist seit 1991 bei der Kampagne, Christian Herz hat sie im Sommer 1990 mitbegründet. Entstanden ist sie als ein politischer Dachverband von mehr als sechzig Gruppen und Organisationen, darunter die DFG/VK, die PDS, die Jungsozialisten, die Jungliberalen und die Grünen. Die seien, so Herz, inzwischen aber eher inaktives Mitglied, die Gesamtpartei stehe nicht mehr hinter den Zielen der Kampagne - mit ein Grund für den Umzug im Mai in die neuen Räume in Prenzlauer Berg. Seit ihrer Gründung lebte die Kampagne nämlich in einer Bürogemeinschaft mit den Grünen, in deren Landesgeschäftstelle in der Kreuzberger Oranienstraße. Das sei für die Kampagne spätestens mit den Beschlüssen der Grünen zum Kosovo-Krieg "nicht mehr verantwortbar" gewesen, so Rolf Siemens. Ein anderes Grünen-Mitglied, das sich von der Partei seit dem letzten Frühjahr ebenfalls distanziert hat, spricht von einem "großen Krach", den es gegeben habe.

Der Dachverband trifft sich nur für Mobilisierungskampagnen, die tägliche Arbeit wird von den fünf festen Mitarbeitern in der Kopenhagener Straße gemacht. Die Kriegsdienstverweigerung sei heute, sagt Herz, eine Massenbewegung, die Zahl der Aktivisten seit den siebziger Jahren aber um den "Faktor minus 10" gesunken. Gründe dafür seien das verminderte soziale Netz und der verschärfte persönliche Existenzkampf. Auch werde nicht unbedingt aus politisch-moralischen Erwägungen verweigert, sondern weil der Wehrdienst einfach als karrierebehindernd empfunden würde. Eine Folge der Kohl-Jahre: Seit damals gehe es nur noch ums möglichst schnelle Studieren. Deshalb werde auch die Wehrpflicht für lästig gehalten.

Die Kampagne gilt als radikal. Sie ruft zu zivilem Ungehorsam auf, z.B. zu Kasernenblockaden, und betreut Totalverweigerer "offensiv", das heißt, sie geht mit ihnen in die Öffentlichkeit, wenn sie das wollen. In Berlin hat sie Schulverbot, und die Bundeswehr erklärte vor einigen Jahren: "Eine demokratische Auseinandersetzung mit der Kampagne gibt es nicht." Inzwischen aber sei der Dialog doch freier und die Ideologiegrenzen aufgeweicht, so Herz. Auf Podiumsdiskussionen säße auch mal ein Offizier der Bundeswehr neben einem Vertreter der Kampagne, und auch die Schultore sind ihnen nicht immer verschlossen.

Nach mehr als 20 Jahren politischen Kampfes gegen das Militär, davon die letzten 15 in der jetzigen Bundeshauptstadt, ist der inzwischen 40-jährige Christian Herz auch der Berliner Polizei wohlbekannt. Es passiert, dass er aus einem Einsatzwagen angesprochen wird, wenn er irgendwo mit seinem Fahrrad steht, den Weg zu einer politischen Veranstaltung suchend: "Herr Herz, die nächste links." Was nach einem fast freundlichen Miteinander klingt, kann nachts um drei auf einer menschenleeren Straße ohne Zeugen schnell bedrohlich wirken. Auch am Telefon hat Herz schon des öfteren Drohungen erhalten, so dass er inzwischen eine Geheimnummer hat. Er spricht von einem "Bewusstsein des Verfolgten" und hält das angesichts seiner Erfahrungen nicht für Paranoia. Schon seltsam - oder eben "unheimlich" - wenn da die Dasa auf einmal für die gleichen Ziele kämpft.
Bernd Hettlage

Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär, Kopenhagener Str.71, 10437 Berlin, fon 440 13 00, fax 44 01 30 29, geöffnet Mo-Fr, 10-18 Uhr.
Infoveranstaltung gegen die Wehrpflicht Di 17.30 Uhr.
Aktuelle Fragestunde zu Wehrpflichtproblemen Fr 17.30 Uhr.
E-Mail: nfo@Kampagne.de
Homepage: www.Kampagne.de

"Antimilitaristisch begleitet" werden soll das 2. Öffentliche Gelöbnis am 20. Juli im Bendlerblock - Interessierte sollen sich an die Kampagne wenden.

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 06 - 2000