Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Laborversuch unter verschärften Bedingungen

Kolonialarchitektur im Gründerparadies - Wolfgang Kils gesammelte Kritiken

Allzu oft war der Architekturkritiker Wolfgang Kil der Quotenossi: als Bauwelt-Redakteur, Autor für Anthologien und Ausstellungskataloge sowie auf Vortragsveranstaltungen. Im völlig westdominierten Architekturbetrieb wird er immer wieder gedrängt, die Stimme des Ostens abzugeben. In der Rolle des ostdeutschen Feigenblattes fühlt sich Wolfgang Kil zwar überhaupt nicht wohl, aber einer muss es ja machen. Den Quotenossi-Bonus hat er jedoch gar nicht nötig. Kil wird geschätzt als "einer, der Architektur und Politik zusammendenkt" (Ingeborg Flagge) und sich nicht mit Fassaden- und Stilkrittelei aufhält.

Zur Vorstellung seines Buches "Gründerparadiese - Vom Bauen in Zeiten des Übergangs", in dem 37 Texte aus den Jahren 1991 bis 1999 versammelt sind, drehte Wolfgang Kil den Spieß um und lud sich einen Quotenwessi ein: den Hamburger Architekturkritiker Gert Kähler. An der Frage, ob es eine ostdeutsche Identität im Bauwesen gebe, hatte sich zwischen den beiden ein publizistisches Fernduell entzündet. Als es vor Publikum zum Nahkampf kommen sollte, stellte sich allerdings heraus, dass Kil und Kähler, die sich jeweils selbst und gegenseitig als "unheilbare Romantiker" bezeichneten, gar nicht so weit auseinander liegen.

Wolfgang Kil beklagt, dass es nach der Wende auch im Bauwesen zu einem harten Bruch kam, statt zu einem behutsamen Übergangsprozess. Ostdeutsche Architekten, die sich nicht der Plattenbau-Normierungsideologie unterworfen hatten, bekamen auch nach der Wende keine Chance. "Regelnde Eingriffe waren politisch nicht gewollt." Man spielte mit dem "Beitrittsgebiet" einen "Laborversuch unter verschärften Bedingungen" durch, meint Kil. Gert Kähler stimmt dem zu: "Dass die ostdeutschen Städte durch die Nachwendeentscheidungen kaputt gemacht wurden, ist von der Politik gesehen worden. Frei nach Ulbrichts 'Überholen ohne einzuholen': Auf dem Weg zur amerikanischen Stadt ist man in Ostdeutschland schon weiter als im Westen."

Er meint aber auch, dass der Umbruch und die Nachwendearchitektur im Osten - ob man sie mag oder nicht - mittlerweile Bestandteil der Ost-Identität ist. Kil hielt dem entgegen, dass im Osten fast nur West-Architekten bauen. "Anfangs haben die Westler gepredigt, nicht die alten Fehler zu wiederholen, und während man sprach, wurden die Fehler potenziert. Die Westler haben alles an sich gerissen und dadurch verhindert, dass Ostler selbst Fehler machen konnten, aus denen sie hätten lernen können."

Bis die Ost-West-Gegensätze verschwinden, werden sicher noch zehn Jahre ins Land gehen, schätzt Kil. Gert Kähler ist sogar noch pessimistischer: "Das Saarland kam erst 1957 zur BRD, dort hat man sich 50 Jahre lang als Arsch der Republik gefühlt."
js

Wolfgang Kil: Gründerparadiese - Vom Bauen in Zeiten des Übergangs, Verlag Bauwesen, Berlin 2000, 180 Seiten, 48,80 DM

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