Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Die Schafe der Klingonen

Vom bunten Leben auf dem Kinderbauernhof im Prenzlauer Berg

Wollt ich wirklich, ich wär ein Huhn? Wenn ich mir das genau betrachte, wäre ich noch lieber Dörte: Dörte schubst gerade mit ihrer knochigen Stirn Agnes unsanft zur Seite, reckt ihren Hals weit vor und schnappt sich das knackige Chinakohlblatt. Ob es nur der Hunger ist, der sie treibt? Oder weiß sie, daß dieses gelblich-grün-weiße Blatt so schön kühl und bitter schmeckt? Während Dörte kaut, hat sich Agnes neu positioniert und nun bessere Chancen im Gefecht um Kohl und die Gunst der Kinder. Besonders Judith und Tina, die nach der Schule fast jeden Tag hier sind, achten darauf, daß Dörte und Agnes, aber auch Harald, der sich heute jovial im Hintergrund hält, etwas abbekommen vom jungen Gemüse.

Wüste Mauerpark

Wir befinden uns im Kinderbauernhof Prenzlauer Berg. Nähert man sich von Osten über die Kopenhagener Straße, liegt er verschlossen da: zwischen der Gleis- und Tunnelwüste des Nordkreuzes, den grotesken Bauten des versandeten Bauabschnitts Mauerpark IV und dem Lager eines Gerüstbauers. Die Holzlatten, mit denen er verkleidet ist, tragen die Spuren von Hitze, Kälte und Regen, und nur ein schmaler Pfad, mit Steinplatten befestigt, lädt Besucher ein, an Fenstern mit Klappläden schmal wie Schießscharten vorbei, die abweisende Fassade zu umrunden. Hier öffnet sich das L-förmige Gebäude wie eine aufbrechende Knospe: ein einladender Vorhof, wo kleine und größere Kinder kreischend umherrennen; eine Freitreppe, unter der Frauen im Schatten beisammensitzen, die Allerkleinsten behüten und Männer ein erstes Bier zischen; und diese Treppe führt hinauf zu einer umlaufenden Galerie vor einer hohen Glasfassade. Dahinter finden sich gut ausgestattete Spiel- und Werkräume und im Zentrum des Gebäudes eine gemütliche Küche. Und dann ist da noch der seit Mitte April eröffnete Stall, wo Dörte, Agnes und Harald leben.

Dörte, Agnes und Harald sind Kärntner Brillenschafe - eine alte Hausschafrasse. Tina und Judith wissen, daß Schafe zwar Chinakohl aber keinen richtigen Kohl fressen dürfen. Sonst bekommen die Brillenschafe Blähungen und können daran sterben. Brillenschafe sind für den naturentwöhnten Städter ein eigenartiger Anblick: Insbesondere das Gesicht wirkt archaisch. Es wird beherrscht von einem gebogen Knochen, der sich von der Stirn bis zum Maul zieht. Als seien es die Hausschafe der Klingonen aus Raumschiff Enterprise. Hinter dem Kopf der Rumpf ist - wie auch bei anderen Schafen - ein riesiges Wollknäuel auf staksigen Beinen. Wie- viel Wolle so ein Schaf drauf hat, sieht man an Agnes. Die wurde heute geschoren und der Körper scheint kaum breiter als der Kopf.

Alles was nicht mehr an Agnes dran ist, kommt heute noch auf den Arnimplatz. Dort findet ein Fest statt und Birgit Blank, eine der drei MitarbeiterInnen vom Kinderbauernhof, will dort mit Kindern aus Agnes´ Wolle Bälle filzen. Und vielleicht sind auch einige von den Alten dabei, die sich zur Seniorenvertretung am Arnimplatz zusammengeschlossen haben. Die hatten nämlich Geld gesammelt, sind damit zum Tierpark Berlin und haben dort Dörte, Harald und Agnes gekauft und sie dem Kinderbauernhof zur Stalleröffnung geschenkt. Wie die Bürgermeisterhühner, die nicht so genannt werden, weil sie zur Rasse der Bürgermeisterhühner gehören, sondern weil sie ein Geschenk des Bezirksbürgermeisters sind. Und auch der Zivildienstleistende Stephan hat einige Hühner vom elterlichen Hof beigesteuert.

Frische Hühnereier

Für die Öffentlichkeitsarbeit sorgen vor allem der Hahn und die Hühner. Die Hühner locken die Anwohner aus der Schwedter und Kopenhagener Straße an: Ob man nicht mal ein oder zwei frische Eier bekommen könne? Aber der Hahn scheint nicht alle Anwohner mit seinem Krähen zu erfreuen. Manche sollen sich schon beim KoB, dem Kontaktbereichsbeamten der Polizei beklagt haben. Aber der soll wohl für gut Wetter sorgen, meint Micha Bartrow, der Projektleiter des Kinderbauernhofs.

Schließlich kommen zwischen 50 und 100 Leute pro Tag in den Kinderbauernhof - und nicht nur Kinder, sondern Menschen aus fast allen Altersgruppen, wie Birgit Blank erzählt. Im Viertel am Falkplatz gebe es viel zu wenige betreute Plätze in der offenen Arbeit. Wenn auch viele Familien aus dem Prenzlauer Berg wegzögen, so sei für andere gerade der Kinderbauernhof neben den noch recht günstigen Wohnungen ein Grund, hierher zu ziehen. Und die Geburtenrate, sagt sie optimistisch, sei wieder im Steigen begriffen.

Bedrohliche Kürzung

Das sind wichtige Argumente für den Erhalt des Kinderbauernhofs. Denn seine Zukunft ist keineswegs gesichert. Die Idee, wie schon in anderen Bezirken, einen Kinderbauernhof auf dem Grenzstreifen zu errichten, war schon 1990 entstanden. Birgit Blank trimmt die Idee zum Slogan: in den Todesstreifen Leben bringen. Doch der Tod scheint ständig zu lauern. So hätte die pauschale Kürzung des Senats für freie Träger um fünf Prozent in diesem Jahr beinahe das Ende bedeutet. Doch die Bezirksverordnetenversammlung konnte wider Erwarten beim Senat nochmal Geld locker machen. Aber schon nächstes Jahr steht der Kinderbauernhof vor demselben Problem.

Derweilen rammen die beiden Kameruner Zwergziegen Heinz und Lissy mit ihren Hörnern gegen das Gatter. "Lissy, was bist du dick!", meint eine der Mütter, die das Füttern ungern den Kindern allein überläßt. Aber schwanger sei sie wohl nicht, denn der Heinz, der könne nicht mehr. Michael Bartrow erklärt dann, daß eine Ziege keinen Uterus habe, sondern zwei Hörner, ein Horn rechts und eins links. Entsprechend schief würde der Bauch einer schwangeren Ziege aussehen. Und das ist bei Lissy der Fall.
Ulrich Leinz

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