Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Das speiende Auge
"Graphischer Terrorismus" aus Frankreich im Haus Schwarzenberg

"Vomir des yeux", "aus den Augen kotzen", lautet einer der agressiven Textfetzen, die Pakito Bolino bevorzugt mit dickem Tuschpinsel in seine gestrüppartig ausufernden, vollgepackten Zeichnungen schreibt. Sein äußerst eigenwilliger, energetisch-brutaler zugleich einfach wunderhübschen Zeichenstil wirkt wie die Comic-Variante von Jackson Pollock. Heftige, oft extrem provokante Varianten zeichnerischer Äußerungen haben in Frankreich seit den Aktionen der Zeichnergruppe "Bazooka" in linken Zeitungen Ende der 70er Jahre eine gewisse Tradition.

Seit 1992 betreibt Bolino mit Caroline Sury das graphische Einsatzkommando "Le Dernier Cri", zunächst in Paris und seit 1996 im subkulturfreundlichen Marseille. Von Anfang an war es das Ziel der beiden, größtmögliche Produktivität bei gleichzeitiger völliger Unabhängigkeit zu erreichen.Ohne jegliche Subvention sind bislang rund 80 Bücher, der Großteil im Siebdruck, erschienen. Pakito Bolino ist permanent dabei, neue Künstler für seine internationale Dernier-Cri-Familie aufzuspüren. In Europa gänzlich unbekannte Zeichner aus Japan stehen neben dem französischen "Altmeister" Pierre la Police oder dem manischen Cartoon-Apokalyptiker Blex Bolex.

Einen der Schwerpunkte des Verlagsprogrammmes bilden inzwischen die "perversen" Amerikaner, mit Gary Panther als Star der Szene, einem der einflußreichsten Künstler der Post-Pop Art und obsessiv-seltsamen Malern wie Stu Mead und Georganne Deen. Endeckungen aus Finnland folgen verstärkt.

Bolino und Sury sind besessen von allem, was "anders", "krank" oder jedenfalls bizarr erscheint. So war einer der wesentlichen Auslöser ihrer manischen Tätigkeit als Vermittler künstlerischer Gegen- und Außenseiterwelten die Begegnung mit der "art brut", den Werken geistig kranker Künstler.

Hôpital Brut" heißt das jährliche dicke Kompendium des Dernier Cri, wie auch die reich bestückte Ausstellung, die auf ihrer Europatournee nun in Berlin gastiert, und unter anderem den Film gleichen Namens präsentiert. Es ist bereits der zweite Dernier Cri-Trickfilm, wie der erste für den französischen Fernsehsender "Canal plus" produziert. Dort war er allerdings ohne die härteren "Pornoszenen" zu sehen. Die Ausstellung zeigt das rasend schnell geschnittende Gemeinschaftswerk einer Unzahl von Künstlern, selbstverständlich ungekürzt.

Zusammen mit dem adäquat fiesen Soundtrack, der die Musikertätigkeit von Bolino & Co dokumentiert, ist der Film der bisherige Höhepunkt der Dernier Cri-Philosophie des optischen Totalangriffs.

Die ins extrem getriebene Methode der Reizüberflutung hat, ergibt man sich schließlich dem Mahlstrom, paradoxerweise beim Opfer eine gegenteilige Wirkung zur Folge: Völlige Entspannung und kontemplative Gelassenheit stellen sich ein (zugegeben, es wird wohl nicht jeder diesen Zustand erreichen, der Versuch jedoch lohnt unbedingt).
Kai Pfeiffer

"Hôpital Brut" bis 23. Juli, Haus Schwarzenberg, Rosenthaler Straße 39, Mitte , Mi, Do 16-22 Uhr, Fr 16-24 Uhr, Sa 14-24 Uhr, S0 14-20 Uhr www.lederniercri.org

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