Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Meine Fresse, haben wir gesoffen!

Neuer Realismus aus Dänemark

Als sein Erzählband Radiator kürzlich in der literaturWERKstatt vorgestellt wurde, gab sich Jan Sonnergaard betont unprätentiös. Er sei arbeitslos gewesen und habe sich die Zeit eben irgendwie vertreiben müssen, keineswegs habe er gleich an eine Publikation gedacht. Seine "Geschichten aus der Kopenhagener Provinz" jedoch wurden zu einem beispiellosen Erfolg. Sonnergaards Début verkaufte sich im kleinen Dänemark 40000 mal - eine Zahl, die selbst am deutschen "Belletristik-Markt" aufhorchen ließe.

Im Klappentext des nun von Peter Urban-Halle auf Deutsch vorgelegten Buches wird Sonnergaards Prosa mit Thomas Brussig und Judith Hermann verglichen. Das hat der Däne nicht verdient. So gefällig und harmlos wie die Texte der deutschen Erfolgsautoren sind seine Geschichten nämlich keineswegs. Die große Resonanz von Radiator ist verdient und wurde erreicht mit Erzählungen, die in ihrem sozialen Realismus schonungslos sind und die dunklen Seiten nicht nur der dänischen Gesellschaft thematisieren. In Sonnergaards Geschichten wird gesoffen, was das Zeug hält, Langeweile und Frustration entladen sich in Sadismus und Gewalt. Der Spaß an einem "Polterabend" mündet in schwere Verletzungen, Sonnergaards Protagonisten fahren in die Stadt, um "ein paar Idioten auf den Sack zu gehen", bilden "eine wunderbar aggressive Gemeinschaft", wenn genügend Bier auf dem Tisch steht, randalieren in Schickimicki-Lokalen oder pissen auf einen besoffenen Schweden, der besinnungslos auf der Straße liegt. Am Ende war es dann "ein guter Tag, ein reicher Tag. Ein haßerfüllter Tag und ein reicher Tag."

Es möchte sein, daß viele Leser Sonnergaards Buch als abgefahrenen Trash vom Rand der Gesellschaft rezipieren und daß der Kultstatus von Radiator in Dänemark auf diese Weise zustande gekommen ist. Möglicherweise eigneten sich die Geschichten auch für eine Dramatisierung durch Frank Castorf. Sonnergaard kann dieser Zynismus jedenfalls nicht vorgeworfen werden. Bleibt die Frage, ob solche straight-forward erzählten Texte heute überhaupt noch dazu geeignet sind, eine gesellschaftliche Realität zu treffen. Zweifel sind angebracht und diese Geschichten aus Kopenhagen sind denn auch von durchaus unterschiedlicher Qualität. "Lotte" etwa beginnt mit einer gnadenlos ausführlichen Beschreibung des Arbeitsalltags eines Barkeepers: "An einem gewöhnlichen Arbeitstag war ich mehr Schwachsinn ausgesetzt, als man im Verlauf von zehn Jahren im Fernsehen zu hören kriegt." Gegen das hirnrissige Gesabbel der Besoffenen hilft wiederum nur Alkohol. Aber muß dann eine geheimnisvolle Frau, diese Lotte auftauchen, muß es schließlich eine Schlußpointe geben, die den Text zu einer veritablen Horrorgeschichte macht?

In "NETTO und facta", dem vielleicht eindrücklichsten Text, wird aus der Perspektive eines Arbeitslosen erzählt, von seinen Geldnöten und seiner sozialen Marginalisierung. Einkaufen muß er bei NETTO: "(...) womöglich ist es ja ganz schön und gut, ab und zu auch mal Scheiße zu kaufen, aber es ist unbestreitbar eine andere Sache, wenn man gezwungen ist, ausnahmslos jeden Tag Scheiße zu fressen, und zwar nur Scheiße." Daß ihn Tuborg oder Carlsberg genauso ins Grab bringen würden wie sein Billigbier, ist ihm klar, "aber eben auf eine sehr viel angenehmere Art."

Mit dem Titel seines Buches nimmt Jan Sonnergaard den Lyriker Niels Frank, Direktor der Kopenhagener Schriftstellerschule aufs Korn. Frank hat nämlich behauptet, das Wort Radiator eigne sich nicht für eine Verwendung in Gedichten. Nun ist Sonnergaard kein Lyriker, die Richtung aber ist klar: Es geht ihm nicht um das sprachlich Ausgesuchte, um einen raffinierten Text, er will mit seinem Schreiben der gesellschaftlichen Realität in der neoliberalen Postmoderne begegnen. Ein Versuch, der wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt ist, der sich aber dennoch lohnt.
Florian Neuner

Jan Sonnergaard: Radiator. Geschichten aus der Kopenhagener Provinz (Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle). Achilla Presse,Hamburg, Bremen, Friesland 2000, 32 DM

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