Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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In weiter Ferne so nah

"Kunst statt Werbung" widmet sich der realen Umgebung

Wartet man auf die Linie U2 am Alexanderplatz, dann lässt man schonmal eine U-Bahn durchfahren und steigt erst in die übernächste ein. Auf dem Bahnsteig findet seit 1991 die Aktion "Kunst statt Werbung" statt, jährlich wechselnde Ausstellungen gibt es dort schon seit 1987 und begonnen hat alles Anfang der achtziger Jahre mit einer Gruppe beim Verband Bildender Künstler.

Dieses Jahr werden nicht nur die traditionellen Werbeflächen zu Kunstflächen umgestaltet, sondern auch die nähere Umgebung wird mit einbezogen. So mutiert beispielsweise das funktionslose Fahrkartenhäuschen auf dem Bahnsteig zur Gepäckaufbewahrung. Ohne Einkaufstaschen mitschleppen zu müssen, zieht man stattdessen nur mit einer kleinen Plastiktüte los, die Papier und Schreibzeug enthält und als allerwichtigstes Utensil einen Plan des Alexanderplatzes, der die gegenwärtige Bebauung festhält. Diejenigen Gebäude, die durch die Planungen für das "Neue Berlin" zum Abriss freigegeben sind und in den nächsten Jahren langsam aus dem Gesichtsfeld verschwinden werden, sind mit einem roten Kreis versehen. Bevor der Alexanderplatz in naher Zukunft eine riesige Baustelle sein wird, der später durch Blockrandbebauung, Hochhäuser, Arkaden, Foren und Multiplexe einen stark veränderten Charakter bekommen wird, soll der Besucher nochmal seine eigenen Beobachtungen, Gedanken, Kommentare, Skizzen, Ideen und Visionen vor Ort und überirdisch zur heutigen Situation festhalten. Die Kommentare werden jeweils am nächsten Tag in einer eigenen Zeitung wiedergegeben, die die U-Bahnbenutzer in die Züge mitnehmen können. Die Künstlerin Folke Köbberling bezeichnet ihre Aktion "common place" als die Verbreitung zeitgenössischer Vergangenheit. Der "Alextreff" gehört durch den mittlerweile erfolgten Abriss schon definitiv zur Vergangenheit - der Kaufhof, das Forum-Hotel und das "Haus des Reisens" stehen zum Abriss bereit, man könnte sie sich also schon vorab wegdenken und als Vergangenheit wahrnehmen.

Sollte man dagegen das Tageslicht scheuen, ist man auf dem Bahnsteig unter der Erde auch ganz gut aufgehoben. Die 32 umgestalteten Plakatwände auf den Hintergleisflächen sollen Licht ins Dunkel bringen und das Untergrundpanorama zeigen, dass man sehen könnte, hätte man einen Röntgenblick. Unterirdische Landschaften mit Häuserfundamenten, Tunnelanlagen, Kanalisation, Bunkern, Kabeltrassen, Wege und Tunnelsysteme kommen da zum Vorschein - und alles exakt recherchiert von dem Künstler Martin Kaltwasser anhand von umfangreichen Kartenmaterial. Die perspektivischen Schwarzweißzeichnungen bieten einen Ausblick in den Berliner Untergrund, der so ungewohnt ist, dass man wahrscheinlich auch zwei U-Bahnen vorbeifahren lassen muss, um dahinter zu kommen, was dahinter liegt.

Wer die Ferne stattdessen ganz real nah holen will, kann zusätzlich die zwei Standfernrohre auf dem U-Bahnsteig benutzen und nun selbst seinen Blick ungewohnt schweifen lassen - und sich wie ein Überwachungskameraauge fühlen.

Den ganz speziellen originalen Duft des U-Bahnsteigs steuert Helgard Haug bei. Abgefüllt als Essenz "U-deur" in Flakons kann er am Automaten gekauft und mitgenommen werden. Ganz ehrlich.
sas

Bahnsteig U2 Alexanderplatz, 8. Juni bis 20. August.

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  Ausgabe 05 - 2000