Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Machst du mir einen schnellen Futschi?

Saufen in Kreuzberg

Die ungefähr 40-jährige Frau, die noch einen schnellen Futschi ordert, möchte bald nach Hause. Es ist gegen 23 Uhr. An der Theke im "Rogers Inn" (Maybachufer/Ecke Hobrechtstraße) sitzen außerdem noch drei stille Zecher, die in aller Ruhe ihrer Profession, dem Trinken nachgehen, nebenbei den einen oder anderen Blick in die "B.Z." werfen - oder auch nicht. Im Hinterzimmer spielen junge Männer Billard oder Darts, Alkoholikersport.

Es gibt sie auch in Kreuzberg noch, diese Orte, an denen wirklich professionell getrunken wird. Ehe die Studenten und die Migranten kamen, soll der Bezirk ja ein verkommenes dunkles Viertel voller Bierschwemmen und Alkoholiker gewesen sein. Natürlich sind hier jetzt die Milchcafés Legion, in denen man den ganzen Tag frühstücken kann und die alle so einfallslos-verwechselbar gestaltet sind, daß ich sie und ihre Namen durcheinanderbringe. So manche alte Eckkneipe wechselte zudem in türkische Hand und schreckt jetzt durch grelle Neonbeleuchtung Nicht-Türken ab. Dagegen und gegen die Milchcafé-Uniformität aber stehen immer noch Kneipen wie der "Goldene Hahn" am Heinrichplatz, den Thomas Kapielski auf die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes setzen will. Möge seinen Bemühungen Erfolg beschieden sein!

Auch mein ganz persönliches Berliner Kneipen-Initiationserlebnis hat sich im Bezirk Kreuzberg zugetragen, genauer: in der "Patentamt"-Kneipe (damals: "Zum Patentamt", heute: "Am Patentamt"), Gitschiner/Ecke Alexandrinenstraße. Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet diese Kneipe war - nun, sie liegt nicht gerade versteckt, an einer der Verkehrsschlagadern Kreuzbergs - ich betrat sie anno 1990 jedenfalls, weil ich in ihr eine berlintypische Eckkneipe vermutete. Keineswegs gefehlt! Die Holztäfelung dunkel, auch bei Tageslicht zugezogene Vorhänge, neben dem Eingang eine Telephonzelle, ein Spielautomat, der ab und zu Laute von sich gab - die Atmosphäre sagte mir zu, ein Ort der Abgeschiedenheit und der Kontemplation. Die Kneipe war von friedfertigen Berufstrinkern bevölkert und man konnte auch Hühnersuppe essen. Ich war begeistert und verspürte den Wunsch, jeden Abend in so einer Kneipe zu verbringen, mußte also irgendwann nach Berlin ziehen. Einige Jahre später las ich dann in der "Siegessäule" von einem neuen Treffpunkt für Transvestiten in der Gitschiner Straße. Ein Lokalaugenschein bestätigte meine Vermutung: Es handelte sich um die "Patentamt"-Kneipe, englisch umbenannt und mit ein bißchen schriller Dekoration. Das Bemerkenswerteste: Die alten Berufstrinker ließen sich von dem Transgender-Publikum keineswegs abschrecken, Kreuzberg eben. Die Kreuzberger Eckkneipe, sie zeichnet sich im Vergleich zu anderen Bezirken nicht zuletzt durch ein weniger spießiges, bunteres Publikum aus. Heute ist die "Patentamt"-Kneipe wieder eine "normale" Eckkneipe, ein schöner Ort.

Der "Krug" in der Mariannenstraße ist einer jener utopischen Orte, in denen der Durstige Tag und Nacht Zuflucht findet. Sonntags finden Matinéen mit Vodka und Korn statt und bei der Bierbestellung wird die unvermeidliche Eckkneipen-Frage gestellt: "Henkel oder Krug?" Ich sage "Henkel" und bin mir nicht bewußt, was ich damit möglicherweise über mich verraten habe. Wenn man nicht die vollen 24 Stunden im "Krug", wie die Kneipe schlicht-präzise heißt, verbringen will, dann kann man in die "Rote Rose" (Oranien-/Ecke Adalbertstraße) wechseln, wo einem auch rund um die Uhr Menschen entgegentorkeln. Das Ambiente hat etwas von einem Puff, überall Herzchen, rote Laternen, Gartenzwerge, eine venezianische Gondel. Heute spielt türkische Popmusik.
Florian Neuner

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 05 - 2000