Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
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O Gnade! Ein Alien!

Tim Staffel und seine hanebüchenen Roadstories

Wenn man das Etikett "Junge Wilde" so versteht, wie man es gegen die ursprüngliche Semantik gleichwohl verstehen muß, seit es sich eingebürgert hat als Bezeichnung für angepaßte 40-jährige CDU-Karrieristen, die mit dem Anspruch hervorpreschen, jetzt doch endlich auch mal fette Posten zu bekommen und mit den Grünen Pizza essen gehen, dann eignet es sich trefflich als Beschreibung der sogenannten jungen deutschen Literatur, jener Leute, die in den vergangenen Jahren débutiert haben und vom Buchmarkt entsprechend gehypt wurden. Die Losung heißt: Unterhaltung, anspruchsloses Erzählen - am besten nach US-amerikanischem Vorbild. Was liegt also näher, als einen deutschen Roman gleich in Amerika anzusiedeln? Tim Staffel tut das in seinem neuen Roman Heimweh irgendwie, genau weiß man nämlich nicht, wo sich die Protagonisten Tizian, Marvin und Cem - "drei Aliens, die die Welt befruchten" - herumtreiben. Jedenfalls ist das Buch laut Verlagswerbung nicht nur ein Märchen, sondern auch eine "Roadstory": "Willkommen im Film. Roadmovie, Splatteroption." Staffels Prosa liest sich denn auch wie die deutsche Synchronfassung eines fünftklassigen Hollywood-Machwerks. Die Dialoge hören sich so an: "Ich bin Marvin. Das ist Tizian./Freut mich./Scheiße Mann, freut mich ganz toll. Gleich kommen diese Wichser zurück, dann ist hier Schluß mit Freude." Kurze, abgehackte Sätze kennzeichnen diese Prosa. Man sagt ja immer, das sei Videoclip-Ästhetik. Gemessen daran, was diese Schreibe literarisch vorstellt, sind die meisten Video-clips allerdings wirklich große Kunst. Zwischen Sex und Crime bewegt sich die hanebüchene Handlung on the road und auch anderswo, die nachzuzeichnen ich mir erspare. In einer kursiv eingestreuteten Parallelstory wird außerdem noch von Dirty Daisy erzählt, die ihrem Hank den Schwanz abschneidet und auch sonst allerhand erlebt. Der zweite Teil des "Triptychons" scheint schließlich nach Berlin zu führen, denn plötzlich ist ganz viel von DJs und Drogen die Rede - die Welt von Tim Staffel, der es sich ja wie so mancher seiner Kollegen vorgenommen zu haben scheint, die Rolle eines literarischen Berufsjugendlichen zu spielen.

"Komm kill, kill, Baby, kill/Wir drehn uns in die Sonne/Auf dem Weg zu einem andren Gott/Und der heißt Fick mich Fick dich/Wie jeder andere auch" - wer ein Buch, dem ein solches Motto vorangestellt ist, nicht gleich wieder zuschlägt, dem ist wohl nicht zu helfen, oder er ist Rezensent. Mit dem neuen Staffel-Machwerk ist eine Schwundstufe von Literatur erreicht, die wohl nur mühsam zu unterbieten sein dürfte. Unbegreiflich, wie das maßgebliche Feuilleton nach der unsäglichen Krawall-Prosa des Terrordrom auf diesen Autor überhaupt weiter setzen und Heimweh mit Wohlwollen begegnen konnte. Um mit Staffel zu sprechen: "O Gnade!"
Florian Neuner

Tim Staffel: Heimweh. Roman. Verlag Volk und Welt, Berlin 2000. DM 32

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  Ausgabe 05 - 2000