Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1900

18. Mai bis 14. Juni

Staub ist ein lästiges und auch hygienisch recht bedenkliches Übel, das hauptsächlich in den asphaltierten Straßen lästig fällt. Das, was die Pferdehufe und Wagenräder vom Pflaster abschleifen, wird zu einer zementartigen Masse, die sich gleich einer dicken Schicht über den Boden breitet und bei jeder Luftbewegung empor gewirbelt wird. Das führt in der Stadtverordneten-Versammlung zu einem Antrag zur Beseitigung dieses Übels und auch eine Kommission für die Straßenreinigung beschäftigt sich mit dieser Frage. Da in Hamburg die gleichen Erfahrungen gemacht wurden, will man in Berlin das dort beobachtete System versuchsweise im Tiergartenviertel einführen. Die Asphaltstraßen der 21. Inspection werden nachts gewaschen und am Tag leicht gesprengt. Dafür sind die Sprengwagen mit besonderen Vorrichtungen versehen, um das Wasser in dünneren Strahlen herausfließen zu lassen.

Die Fleischkochanstalt auf dem Centralviehhof ist jetzt der direkten Aufsicht eines Polizei-Tierarztes unterstellt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Beschickung und Entleerung der Dampfkochapparate gewidmet. Darin wird das von Finnen befallene Fleisch wie das von Rotlauf- und Gelbsucht erkrankten Tieren für den Genuss unschädlich gemacht. Das tuberkulöse Fleisch aber wird in zwei großen Kesseln, von denen der eine 30 Zentner, der andere 50 Zentner fasst, durch besonders hohe Temperaturen sterilisiert und dadurch alle Bacillen in ihm getötet.

Der Ausstand der Straßenbahn-Angestellten eskaliert am 20. Mai. Seit dem frühen Morgen ist der Rosenthaler Platz von einer großen Menschenmenge besetzt, ab 9 Uhr wächst sie, so dass sich die Menschen bis weit in die Elsasser und Lothringer Straße, den Weinbergsweg und die Brunnenstraße hineinschieben. Die ankommenden Wagen, die nur unter Polizeischutz fahren können, werden mit Lärm und Gejohl empfangen und können sich nur mühsam durch die Massen kämpfen. An dem Wartepavillon in der Lothringer Straße geht es besonders hoch her, doch ist die Menge mit ihren sonntäglich geputzten Frauen und Kindern eher zu Ulkereien aufgelegt, frenetisch wird Wagen um Wagen begrüßt. Doch bald nach 10 ändert sich das Bild.

Die Menge wird aggressiv, wohl ausgelöst durch einen mit Passagieren besetzten Wagen wird nun jede Bahn mit Steinen aller Größen bombardiert, dass die Scheiben klirrend zerspringen. Auch Sand, Schmutz, faule Eier werden als Geschosse benutzt. Die Schutzmannschaften rücken mit blanker Waffe an, versuchen die Masse auseinanderzutreiben, die sammelt sich jedoch immer wieder, und die Schutzmannschaften erneuern ihre Angriffe. Neugierige versuchen zu entfliehen und vor den blanken Säbeln Schutz zu finden. Gerade die Harmlosesten und am wenigsten beteiligten werden von den Hieben getroffen.

2 Uhr nachmittags schießt jemand aus einem Haus im Weinbergsweg 15 c auf einen Wagen. Die Kugel durchschlägt eine Scheibe und fliegt einer Frau dicht am Kopf vorbei. Im Sturmschritt eilen Schutzmannschaften herbei, umstellen das Haus und durchsuchen es nach dem Täter. Ein junger Bursche wird ermittelt und bei ungeheurem Zulauf zur Wache gebracht. Ein Krawall schließt sich an. Das Gejohle und Pfeifen macht die Pferde scheu, auch werden sie aus der Menge heraus mit Stecken auf die Hinterbeine geschlagen, um sie wild zu machen. Das gelingt auch einige male, so dass bei ohrenbetäubendem Lärm Reiter abgeworfen werden.

Um 6 Uhr abends endlich säubert die Polizei Weinbergsweg, Elsasser wie Lothringer Straße und sperrt sie durch starke Postenketten ab. Nur die Linie Rosenthaler Straße - Brunnenstraße bleibt offen. Sobald ein Waggon, neben dem Führer erkennt man einen behelmten Schutzmann, sich der Haltestelle nähert, sprengen ihm Berittene entgegen. Hat der Wagen den Wartepavillon erreicht, so wird er von Schutzleuten, mit dem Säbel in der Faust, umringt. Kaum eine Minute darf der Wagen verweilen, schon tritt er mit der selben Eskorte die Rückfahrt an. Ausnahmslos kommen die Wagen jetzt leer an und fahren auch so wieder zurück. Ergebnis der brutalen Ausschreitungen sind 2 schwer verwundete Schutzleute, an Säbelhieben sterben der Tischler Karl Stuppe und der Arbeiter Bruseberg. 103 Personen werden verhaftet.

Vor etwa 30 Jahren in der Gründerperiode, als die Tingeltangel üppig wucherten, als selbst eine Bühne wie das Wallner-Theater mit einer Posse namens "Geschundene Raubritter" der Zeit ihren Tribut zahlen musste, in dieser Zeit traten die ersten Berliner Volkssänger auf. Berliner Kaufleute hatten sie in Leipzig gehört und rieten dem mit ihnen befreundeten Wirt der "Berliner Flora", die Leute "doch mal kommen zu lassen." Die Flora lag auf dem Hinterland des Grundstückes Friedrichstraße 217. Unter dem Namen "Concordia" übernahm sie dann als Spezialitätenbühne die Erbschaft der "Wallhalla" und heute erhebt sich dort als stolzer, luxuriöser Bau das "Apollo-Theater".

Dort also erschienen die "Leipziger Sänger" und ergriffen das Publikum. Sie sangen von Lenz und Liebe, vom Vaterland, vom Elternhaus und vom Mütterlein. Das Sentimentale wechselte sich mit Humor ab, wie er uns in Neumanns noch heute unvergessener "Bliemchen"-Gestalt entgegentrat. Jahre hindurch sah die "Flora" allabendlich ein voll besetztes Haus. Inzwischen ist von ihnen nur Neumann-Bliemchen geblieben. Die "Stettiner" unter Führung von Meysel und die "Norddeutschen" des wackeren Adolph Hoffmann haben mit a capella- und Quartettgesang sowie Couplets ihre Erbschaft angetreten.
Falko Hennig

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