Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
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Renitentes Kleinod

Die Schliemannstraße will trotz Sanierung und Sozialprogrammen einfach nicht nobel werden - eine Momentaufnahme

Am Stromkasten lehnt eine Plastiktüte, aus der verbeulte Bierdosen und die abgewetzten Ecken alter Schallplattencover hervorquellen. Nebenan im Rinnstein bringt eine weggeworfene Weihnachtstanne etwas Grün in den kahl-grauen Januar: Wer nur kurz hinschaut, könnte glatt denken, die Schliemannstraße sei einfach vermüllt.

Die Straße, die in der Mitte vom Helmholtzplatz getrennt wird, wehrt sich mit etwas Dreck gegen einige frischgetünchte Fassaden wie gegen eine drohende Lebenslüge. Denn anders als am fünfhundert Meter entfernten Kollwitzplatz lässt die prophezeite soziale Verdrängung in der Schliemannstraße noch auf sich warten: Die Menschen sind trotz einiger sanierter Häuser fast die gleichen wie früher. Mag sein, dass sie etwas desillusionierter sind - nach der Aufbruchstimmung in einem in vielerlei Hinsicht besonderen Prenzlauer Berg kehrt nun allmählich gesellschaftliche Realität ein.

"Die Leute reden nicht mehr miteinander", sagt Klaus Wolfram, Bürgerrechtler in der DDR und später Mitglied des "Neuen Forum". Er arbeitet für "BasisDruck", einen kleinen linken Verlag in der Schliemannstraße 23. "Früher unterhielt sich der Professor mit dem Bäcker, heute bleiben sowohl Bürokraten als auch Arbeitslose unter sich. Das ist die Verunsicherung durch die Marktwirtschaft, sonst hat sich in der Schliemannstraße eigentlich nicht viel geändert", sagt Wolfram. Im Jahr 1990 hatte er auf dem Gehsteig mit einem selbst ernannten Bürgerkomitee ausgehandelt, dass sein Verlag in dem nach der Wende kurzerhand besetzten Hinterhaus bleiben durfte. Heute hat nur noch die linksintellektuelle Zeitschrift "Der Gegner" Bestand. Am Haus gegenüber klebt ein Wahlplakat von 1990, das einen kahlgeschoren-düsteren Muskelprotz zeigt: "Ich bin die Marktwirtschaft und gehe zart mit euch um."

Oben, in frisch ausgebauten Dachgeschossen, wohnen nun begüterte Hinzugezogene, stellte Wolfram bei einem Dachspaziergang in seiner Straße fest. Doch das einfache Bild zwischen "oben" und "unten" ist Wolfram zu banal: "Hier gibt es eine ganz besondere soziale Dynamik. Hier tut sich noch was, für mich ist der Prenzlauer Berg die lebendigste Gegend Berlins." Und damit meint er nicht die "bonbonmäßigen" Stelldicheins hipper Youngster am Kollwitzplatz. Er bedauert, dass inzwischen jeder Menschenschlag eigene Treffpunkte und eigene Orte hätte.

In der Schliemannstraße sind das die Cafés. Während sich die Autoren und Redakteure von "BasisDruck" inzwischen um die Ecke im "Torpedokäfer" treffen, sei das benachbarte Schliemann-Café zur Opiumhöhle geworden, sagt er. Fast ist ihm das etwas unangenehm, und das hat einen Grund: Der Mercedes der "netten Steuerberaterin aus Wilmersdorf", die dem kleinen Verlag jährlich die Steuerabrechnung kostenlos erledigt, verlor vor dem Café "Schlie" einen Stern. "Ich wusste gar nicht, dass es davon fünfzehn verschiedene Sorten gibt", erinnert sich Wolfram, der, peinlich getroffen, gleich einen neuen gekauft hatte.

Vorn, an der Ecke zum Helmholtzplatz, ist das "Wohnzimmer". Wolfram würde hier nicht hingehen. Das junge Publikum des eigentümlichen Cafés mit den barocken Holztischen und Plüschsofas ist nicht unbedingt schick, aber hip, es trägt teure Sachen aus dem Second-Hand. Das Fenster füllt stets ein Arrangement aus frischen Blumen, und abends strömt rotes Licht auf die Schliemannstraße hinaus.

Drei Studenten eröffneten das "Wohnzimmer" vor zwei Jahren, als Reaktion auf den "langweilig glatten Stil" der umliegenden Cafés, wie einer von ihnen sagt. "Wir sind hier immer spazieren gegangen und fanden die Atmosphäre schön." Sie bemalten die Wände silbrig-schillernd und installierten Bewegungsmelder im Klo, die buntes Licht anschalten. Ohne Werbung kam das Café in Mode und wurde sogar von der wöchentlichen Lifestyle-Beilage der spanischen Zeitung "El Pais" gefeiert. Inzwischen stößt der Hype an seine Grenzen: In warmen Sommernächten ist nicht nur das Café voll, sondern auch die Schliemannstraße davor. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass der Betreiber seinen Namen nicht in einer Zeitung sehen will. Nun, er hat den allzu guten Ruf vielleicht nicht gewollt, aber wenn die Rede darauf kommt, lehnt er sich doch entspannt zurück. "Wir wollten ein menschlich angenehmes Café öffnen, eines, wo die Gläser immer randvoll sind", sagt der Mittdreißiger.

Er ist einer von denen, die nach der Wende aus dem Westen kamen, um im tristen Ost-Grau bunte Träume zu verwirklichen. "Jeder, der etwas macht, macht auch etwas kaputt", sagt er, angesprochen auf die stets präsente Kritik, da kämen nun Alternative aus dem Westen und treiben mit ihrem eitlen Gestaltungstrieb die Mieten hoch. "Klar kommen zu uns viele Leute, die alles cool finden und hier wohnen wollen. Aber vielen ist die Gegend hier zu hart. Die kommen abends vorbei und gehen dann wieder."

Seit zwei Jahren kann man in den Hauseingängen der Schliemannstraße Haschisch, Kokain und Speed kaufen. Die Polizei nahm die Dealer schon oft mit auf das Revier, drei Tage darauf waren sie dann doch wieder da. Große Berliner Zeitungen schrieben in den letzten vier Jahren über eine auf dem Helmholtzplatz gefundene Leiche, zwei Tote beim Brand eines besetzten Hauses, einen Mord und einen bewaffneten Raubüberfall in der Schliemannstraße. Die Beteiligung an den Kommunalwahlen im Oktober lag hier bei vierzig Prozent: mehr als ein Drittel unter dem Berliner Durchschnitt. Die Bewohner der Gegend um die Schliemannstraße sind schon etwas eigenartig - wenn nicht zwielichtig, dann mindestens renitent.

Eine Studie zur ihrer Lebenssituation, die im Februar im Bezirksamt vorgestellt wird, lässt zuerst einmal den Eindruck entstehen, das ihnen nichts fehle: Das Durchschnittseinkommen weit über 1500 Mark, sie sind "alles in allem" zufrieden, die Partnerschaft ist ihnen wichtiger als Bildung, und Bildung wichtiger als Arbeit.

Noch wichtig ist die bezahlbare Wohnung, und auf die Frage, wie sie die zukünftige Entwicklung der Mieten beurteilten, äußerten sich drei Viertel "pessimistisch". Bei der noch laufenden Bewertung möchte Heidrun Schmidtke, die Leiterin des Projekts, ein "Sozialraumporträt" zusammenstellen, also das Bild des "typischen Kiezbewohners".

Warum die Befragung ein recht harmonisches Bild vom Helmholtz-Kiez liefert, kann sich Schmidtke nur über "positive Auswahleffekte" erklären: "Wer richtig sozial benachteiligt ist, wirft unseren Fragebogen sowieso gleich weg." Es seien aber auch Fragebögen zurückgeschickt worden mit dem Vermerk "Wir finden Ihre Sparpolitik scheiße, Herr Eichel!"

Neben hellgrünen und gelben Fassaden steht immer noch eine graue Front, mit vergilbten Scherenschnitten und einer selbstgebastelten Blume aus Sperrholz im Fenster. Gerüste markieren diejenigen Häuser in der Schliemannstraße, deren Bewohner bald ein paar Scheine zur Miete dazupacken müssen. Andere Häuser sind entmietet und warten auf die Rundumerneuerung, bei der Bäder und Zentralheizungen eingebaut werden. In den leerstehenden Wohnungen feiern Obdachlose vom Helmholtzplatz und trinken sich den Winter warm.
Christian Domnitz

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