Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Ich werde gesehen, also bin ich sicher

Neue Einsatzfelder für Videokameras

Die CDU/SPD-Regierung in Berlin plant die Einführung der Video-überwachung von besonders schutzbedürftigen Orten. Laut Koalitionsvereinbarung für die laufende Legislaturperiode handelt es sich hierbei um "Gebäude von öffentlichem Interesse, Religionsstätten, Denkmäler, Friedhöfe". Dabei sei zu beachten, daß die Maßnahme verhältnismäßig und erfolgversprechend sei; es müsse eine konkrete Gefahr vorliegen, die durch erhöhte personelle Polizeipräsenz nicht abzuwenden sei. Die Überwachung normaler Straßen und Plätze sei nicht geplant.

Heidemarie Fischer (SPD) weist darauf hin, daß die SPD die Videoüberwachung öffentlicher Räume ablehne. Aber die Eingangsräume von Botschaftsgebäuden etc. in das Visier zu nehmen, sei erforderlich, denn schließlich gebe es zunehmend Probleme und Gewalt. Dafür legten die Kurdenkrawalle ein beredtes Zeugnis ab. Die Polizei sei ohne die technische Unterstützung nicht mehr in der Lage, ihrem Schutzauftrag nachzukommen, und Extremisten gebe es leider immer. Die Meldung, daß auch Schulen und Krankenhäuser mit der Überwachungstechnik ausgerüstet würden, weist Fischer als falsch zurück.

Vorauseilende Kabelschächte

Die Koalition, die manche "die große" nennen, hat also nicht vor, Stasi-Methoden zu übernehmen und die Bürger permanent zu beobachten. Deshalb wiegelt auch der Bündnisgrüne Wolfgang Wieland ab. Die SPD habe die Forderungen der CDU abwehren können, die auf die dauerhafte optische Erfassung von öffentlichen Orten zielten. Dies werde gegenwärtig zwar diskutiert, habe aber bislang nicht durchgesetzt werden können. Und zur Überwachung von Friedhöfen per Kamera gebe es keine Alternative, wie die Schändungen jüdischer Friedhöfe belegten.

Dieser (vorläufige) Erfolg für die Bürgerrechte darf allerdings nicht den Blick dafür verstellen, daß nicht-staatliche Stellen zum Teil seit Jahren Videoaufzeichnungen anfertigen. Banken, Tankstellen und Supermärkte haben ihre Kunden mehr oder weniger diskret im Visier. Auch die BVG bereitet sich vor: In U-Bahnhöfen ersetzt Technik das Personal. In den Bussen eines Subunternehmers in Zehlendorf sollte man immer schön lächeln, denn auch hier wird aufgezeichnet. Und wenn die BVG irgendwann wieder selbst Busse anschafft, wird man die Exemplare von Daimler Benz, MAN und Neoplan leicht nachrüsten können, weil die notwendigen Kabelschächte bereits ab Werk vorgesehen sind.

Doch nicht nur die - im weitesten und durchaus problematischen Sinne - Geschäftsräume von Unternehmen sind mit Überwachungstechnik ausgestattet. Unweit der Zitadelle Spandau hat die GSW eine neue Siedung, das "Quartier Pulvermühle", errichtet. Zwischen den würfelförmigen, fünfgeschossigen Häusern befinden sich Spielplätze für die Kinder der dort wohnenden Familien. Auf einem diesem Spielplätze nimmt eine Videokamera das Geschehen und speist das Bild in das Kabelnetz der Mieter. So lassen sich die Kleinen bequem vom TV-Gerät im Wohnzimmer beaufsichtigen.

Die Mieter allerdings scheinen nicht zufrieden zu sein. Eine Frau moniert, daß der Ausschnitt, den die Kamera erfaßt, zu klein sei. Was sich jenseits der Tischtennisplatte abspiele, sei nicht zu sehen. Ein Mann beklagt, daß nur einer von mehreren Spielplätzen überwacht werde, und nicht alle. Die GSW hat das Projekt einstweilen ad acta gelegt. Dem verantwortlichen Mitarbeiter ist die Lust vergangen, weil er von allen Seiten Kritik einstecken mußte.

Einverstanden mit der Aufzeichnung

Wenn sich also der Staat mit dem Einsatz von Überwachungstechnik zurückhält, ist das wenig tröstlich. Es gibt zahlreiche Situationen, in denen man sich an einem öffentlichen Ort wähnt, sich tatsächlich aber auf Privatgrund befindet. Videoeinsatz bedarf dort keiner gesetzlichen Regelung. Solcherart Besitz nimmt zu. Auf die Verzahnung öffentlicher und privater Überwachung ist das Szenario gemünzt, das der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem jüngsten Tätigkeitsbericht entwirft: "Ein völlig harmloser Zugreisender, der in einem Großstadtbahnhof nichts ahnend aus dem Zug steigt, wird durch die Kameras des bahneigenen Videosystems aufgenommen, was auch von den Beamten der nächsten Bahnpolizeiwache beobachtet werden kann. Beim Verlassen des Bahnhofs gerät der Reisende in den Sichtbereich der Videokameras der Landespolizei, die ihn dann in der benachbarten Einkaufszone unbemerkt im Blick behält. Die Videokamera des Bank-automaten hält als nächstes sein Bild fest, und so ließe sich die Geschichte einer Beobachtung durch Videokameras fortsetzen."

Dem Staat zu mißtrauen ist also gut und richtig, reicht aber angesichts der gegenwärtigen Entwicklung nicht aus. Das Kontrollnetz, das die Bürgerrechte einschränkt, wird durch das Ineinandergreifen staatlicher Maßnahmen mit ähnlichen Maßnahmen der freien Wirtschaft engmaschiger. Das vollzieht sich völlig legal und hat deshalb eine paralysierende Wirkung: Es finden sich gegen Videoüberwachung, "Rasterfahndung", "Schleierfahndung", "Lauschangriff" und andere bürgerrechtliche Zumutungen keine Mehrheiten; den meisten ist ein starker Staat sehr willkommen. Und wer wollte es Firmen verbieten, den Zutritt zu Einkaufspassagen vom Einverständnis gefilmt zu werden abhängig zu machen? Es wird auch niemand gezwungen, im "Quartier Pulvermühle" zu wohnen.

Der "Fahndungsschleier", der sich seit der letzten ASOG-Änderung über Berlin gelegt hat, ist noch undurchdringlicher als in Bayern. Aber es könnte noch schlimmer kommen. Die Videoüberwachung öffentlicher Plätze kann nur so lange abgewehrt werden, wie die SPD standhaft bleibt. Die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag sind verbindlich, aber nicht endgültig. Spätestens 2004 läuft der Vertrag aus. Dann werden sich obrigkeitsfixierte Begehrlichkeiten erneut zu Wort melden.
Benno Kirsch

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 01 - 2000